# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Großstadtbuletten an der Ostsee | |
> Auch in der Fremde bleibt der Berliner doch immer bei sich. Auf den Putz | |
> hauen sie nicht nur in ihrer Heimatstadt. | |
Bild: Sonne, Meer, Süden… ach nee, Norden. Blick auf Rügen mit Kreidefelsen | |
„Es gibt zwei Sorten“ von reisenden Berlinern, stellte schon Tucholsky | |
fest: „die ‚Ham-Se-kein-Jrößern?‘-Berliner und die | |
‚Na-faabelhaft‘-Berliner“. Während der Nörgler alles Gesehene mit zu Ha… | |
verglich und „mit faulen Witzen“ bekleckerte, sah der sich selbst und dabei | |
andere Lobende „nicht über den Spittelmarkt“ hinaus. Ein schlechtes | |
Zeugnis. Sollte Tucholsky recht behalten? | |
Erinnere ich mich an BerlinerInnen, die ich in der Fremde traf, fällt mir | |
das Rotweinpärchen am Nebentisch des kleinen Fischrestaurants an der | |
Algarve ein. Sie waren Genießer aus Friedenau im Ruhestand, die Abend für | |
Abend am gleichen Tisch gegrillte Dorade bestellten, dazu zwei Flaschen | |
Rotwein leerten und nach dem Essen Kette rauchten. Wir plauderten über ihre | |
portugiesischen Urlaubserinnerungen, das heißt, sie erzählten von | |
herrlichen Sommern damals in den siebziger Jahren an naturbelassenen | |
Stränden und in unberührten Fischerdörfern, die wir nie mehr erleben | |
würden. So viel stand fest: Auf den Putz hauten die Berliner nicht nur in | |
ihrer Großstadt. | |
Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, dass jährlich etwa 44 Prozent der | |
BerlinerInnen ein paar Tage Urlaub an der Ostseeküste | |
Mecklenburg-Vorpommerns machen. Ich dachte, es wären mehr, denn auf der | |
Insel Rügen, wo meine Familie lebt, werden die Großstadtbuletten während | |
der Sommermonate regelrecht zu Fischköppen. | |
Verlässlich sind etwa die VolleyballerInnen aus Ostberlin. Jedes Jahr von | |
Juni bis August schmettern sie, viele schon seit ihrer Kindheit, die Bälle | |
über das straff gespannte Netz. Sie kommen, ausgerüstet mit Kühltaschen, in | |
Gruppen aus den Zelten des nahegelegenen Campingplatzes an den Strand, sind | |
freundlich, tiefengebräunt und tragen gemusterte Tücher gegen den Schweiß | |
auf ihrer Glatze. Meist beginnt ihr Spiel schon am Vormittag, niemals aber | |
endet es vor Sonnenuntergang. | |
Auch begegnet man vielen RandberlinerInnen oder BrandenburgerInnen. Jeden | |
Sommer verlassen sie ihre gepflegten Eigenheime in Werder oder Velten, um | |
sich in den immer gleichen privat vermieteten Ferienwohnungen auf den | |
Grundstücken der Einheimischen einzurichten. Dort angekommen, werden sie | |
zwei Wochen lang zu Platzhirschen, kreisen regelmäßig um das Ferienhaus, | |
fegen den Hof oder reparieren kaputte Elektroleitungen. Ist all dies getan, | |
stellen sie sich in die Grundstückseinfahrt und grüßen laut die | |
Vorüberziehenden. | |
Häufiger an der Küste anzutreffen sind in den letzten Jahren auch Berlins | |
Kreative. Weniger am Strand, eher am Abend auf Altstadtfesten oder in den | |
besseren Fischrestaurants. Die Schriftsteller, Architekten, Maler und | |
Filmemacher tragen blau-weiß gestreifte Matrosenshirts und schlafen in | |
stilvoll eingerichteten Bäderstilvillen. Sie wissen, wo es den besten | |
Räucherfisch zu kaufen gibt und in welchem noch so abgelegenen Dorf die | |
örtliche Laienschauspielgruppe „Faust II“ aufführt. Manche gehen bei den | |
Einheimischen ein und aus, berichten dort im Abendrot von ihren neuesten | |
Projekten und suchen eigentlich nach Distinktion. | |
Die überraschendste Begegnung mit BerlinerInnen in der Fremde aber erlebte | |
ich letzten Winter auf Fuerteventura. Auf unserer Fahrt durch die staubigen | |
Bergdörfer im Landesinneren nahmen wir zwei Tramper im Mietwagen mit. Nils | |
wohnte in Kreuzberg und hatte ein clowneskes Gesicht, das uns irgendwie | |
bekannt vorkam. Nach ein paar Kilometern wussten wir: Er war tschechischer | |
Pantomime und hatte in den frühen Achtzigern die Etage, die bekannte Schule | |
für darstellende und bildende Künste, gegründet. | |
Wir waren verblüfft. Vor vielen Jahren hatten wir eine Aufführung einer | |
seiner Pantomimeklassen besucht, an der auch eine enge Freundin von uns | |
teilnahm. Als wir ihn, freudig gestimmt, auf Mary, eine Australierin, | |
ansprachen, überlegte er kurz. Dann rief er: Hey, die schuldet mir noch | |
einen Monat Schulgeld! | |
Die Welt ist klein und voller BerlinerInnen. Oder mit Tucholskys Worten: | |
„Ohne ihn ist sie nicht.“ | |
26 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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