# taz.de -- Radio-Moderator Marcus Rudolph: Ein Zuhause im Radio | |
> Marcus Rudolph moderiert beim hannoverschen Bürgerradio Leinehertz 106.5 | |
> eine Sendung, die sich mit Obdachlosigkeit befasst. Auch er hat keine | |
> Wohnung. | |
Bild: Experte in Sachen Wohnungslosigkeit: Moderator Marcus Rudolph | |
HANNOVER taz | Selten wird der Protagonist einer Geschichte bei einem | |
Fototermin mehr Spaß gehabt haben als Marcus Rudolph bei Radio Leinehertz | |
in Hannover. Der 45-Jährige steht im Produktionsstudio im ersten Stock, er | |
trägt Kopfhörer, verschiebt die Regler des Mischpults und malt dabei mit | |
den Fingern Schleifen in die Luft. Den Lärm aus vorbeifahrenden | |
Krankenwagen kommentiert der Hobby-Radiomoderator genauso unerschüttert wie | |
das Fotoshooting. | |
Zwischendurch singt er zur Musik mit und springt für die Kamera in eine | |
andere Pose. Rudolphs Bewegungen im Produktionsraum des hannoverschen | |
Bürgerradios sind routiniert, er kennt die anderen Moderatoren und | |
unterscheidet sich nur in einem Detail von ihnen: Marcus Rudolph hat keine | |
Wohnung. | |
„Das bedeutet nicht, dass ich auf der Straße lebe“, sagt der 45-Jährige. | |
Das müsse er den meisten immer erst erklären. Rudolph wohnt im „Werkheim“, | |
einer Unterkunft im Norden der Stadt. Man wolle „wohnungslosen und mit | |
vielfachen Problemlagen belasteten Männern“ bei der Wiedereingliederung in | |
die Gesellschaft unterstützen, heißt es auf der Webseite des Trägervereins | |
der Einrichtung. | |
Rudolph lebt seit 13 Jahren dort, weil es mit dem Alleinleben nicht gut | |
geklappt hat. Nach Hannover zog er als Kind, seine Mutter trennte sich von | |
seinem Vater und kehrte von Berlin nach Niedersachsen zu ihrem Ex-Mann | |
zurück. | |
Mit elf kam Rudolph in ein Heim und blieb dort, bis er 18 Jahre alt war, | |
danach folgten ein Wiedereinzug und -auszug bei seiner Mutter und dem | |
Stiefvater und weitere Umzüge. Er lebte in Nordrhein-Westfalen und Bayern, | |
schließlich zog er in eine eigene Wohnung in Hannover, die er wegen | |
„Unsauberkeit“ wieder verlor. Für kurze Zeit kam er bei seiner damaligen | |
Betreuerin unter, dann ging Rudolph ins Werkheim und blieb. Aufräumen möge | |
er bis heute nicht besonders, sagt er. In seinem Zimmer in der Einrichtung | |
stapeln sich Zeitungen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und Bücher. | |
Vor Kurzem hat es deswegen Ärger gegeben. Er müsse aufräumen, hieß es von | |
Seiten des Werkheims. Er habe sich eben ein Nachrichtenarchiv aufbauen | |
wollen, sagt der Hobby-Radiomoderator. Nun lagern 150 seiner Bücher bei | |
Michael Hess, einem Freund Rudolphs, der auch im Werkheim wohnt und heute | |
mit in das Studio von Radio Leinehertz gekommen ist. Die beiden Männer | |
sitzen vor zwei Bildschirmen, es läuft „Ich fahre Mofa, quer durch | |
Hannover“ von Bruno Breitklops. Rudolphs Lieblingslied. | |
Außer einem Einsteigerkurs bei Leinehertz hat der 45-Jährige keine | |
Schulungen am Mischpult gehabt. Im Produktionsstudio bewegt er sich wie ein | |
Profi. „Das war vor zehn Jahren schon so“, erklärt Freund Hess, „dem hast | |
du ein Handy gegeben, am nächsten Tag war es ein Ufo.“ | |
Einerseits darf Rudolph keine an ihn gerichtete Post mehr ohne seine | |
gesetzliche Betreuerin öffnen, andererseits hat er sich das Radiomachen | |
mehr oder weniger selbst beigebracht. „Was ist das schon? Ein Mischpult, | |
ein paar Knöpfchen und Regler“, sagt der er unbeeindruckt. Vielleicht habe | |
er sein technisches Verständnis vom seinem Vater, einem Elektriker, geerbt, | |
vermutet er. Fragen könne er ihn nicht. Er sei tot. Alkohol. | |
## Wiederbelebtes Format | |
Viermal im Jahr wird Rudolph mit „Her(t)zliches Hannover“ auf Sendung | |
gehen. Das Format gab es schon einmal, es wurde vor ein paar Jahren von | |
einer Mitarbeiterin des Senders ins Leben gerufen, damals moderierte | |
Rudolph an der Seite der Redakteurin. Jetzt hat er „Her(t)zliches Hannover“ | |
eigenständig wiederbelebt. | |
Beim Sender freut man sich über den Rückkehrer aus der Obdach- und | |
Wohnungslosenszene. „Wir freuen uns, wenn die eigentlichen Experten – und | |
das ist Herr Rudolph für uns – ihre Themen selbst aufbereiten“, sagt Caren | |
Beckers. | |
Wieder angefangen hat Rudolph, weil er findet, dass sich Hannover zu wenig | |
für Wohnungslose engagiert. Die Ampelkoalition im Stadtrat hat zwar | |
beschlossen, das Projekt „Housing first“ entwickeln zu lassen, bei dem die | |
Betroffenen erst mal eine Wohnung und dann weitere Unterstützung bekommen, | |
doch genau an Ersterem fehlt es weiterhin. | |
## „Housing first“ könnte helfen | |
Dabei würde genau das, die Vermittlung einer Wohnung, den meisten helfen, | |
meint Rudolph. „Fast alle bei uns im Heim haben einen Schufa-Eintrag. Wenn | |
die sich irgendwo melden, werden die sofort abgelehnt“, sagt der | |
45-Jährige, daher brauche man das Projekt. „Wenn es das nicht gibt, gibt es | |
bald noch mehr Obdachlose.“ Der Moderator will bei „Her(t)zliches Hannover�… | |
allerdings nicht nur über Obdachlosigkeit, sondern auch über Hartz IV und | |
Grundsicherung sprechen. | |
Für seine nächsten Sendungen sucht er nach Gästen, die ihre Erfahrungen mit | |
ihm teilen wollen. „Man denkt immer, dass sich die Leute sich nicht für so | |
eine Lebensgeschichte interessieren, aber das stimmt nicht“, sagt Rudolph. | |
Eine Frau habe etwa, nachdem sie in einer seiner Sendungen interviewt | |
worden war, eine Wohnung vermittelt bekommen. | |
## Hohes Sprachtempo | |
Seine Sendung gestaltet Rudolph trotz der Thematik weder anklagend noch | |
ernst: Während des einstündigen Auftakts kommentiert er das Essen im | |
Werkheim, das an guten Tagen aus Pizza oder Currywurst mit Pommes besteht. | |
Dann interviewt er einen Gast, der in einer ähnlichen Lage ist wie er – und | |
ist plötzlich beim Thema Panflöte. | |
Im zweiten Teil der Auftaktsendung lädt der Moderator seine Hörer zu einem | |
Treffen ein und zählt die Tagestreffs in Bremen und Hannover auf, die er an | |
festen Tagen besucht. Sein Gegenüber sollte sich darauf einstellen, nicht | |
allzu oft zu Wort zu kommen, denn Rudolph redet viel und schnell. Sein | |
Sprachtempo ist genauso atemlos wie die Playlist von „Her(t)zliches | |
Hannover“. | |
Mainstreamradio wolle er nicht machen, sagt Rudolph, bei ihm sei Party | |
angesagt. Es folgt „Coco Jambo“ auf Panflötenklänge und immer wieder: Bru… | |
Breitklops. Das Team von Leinehertz lässt den wohnungslosen Moderator | |
selbst bestimmen – auch ein Grund, warum Rudolph gern in den Sender kommt: | |
„Die haben mich aufgenommen, wie ich bin.“ Am 30. November wird er dort das | |
nächste Mal auf Sendung gehen. | |
20 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Nadine Wolter | |
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