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# taz.de -- Kommentar Haftbefehl von Chemnitz: Keine Gefahr für den Rechtsstaat
> Die Veröffentlichung des Haftbefehls von Chemnitz ist vor allem:
> unbedeutend. Die Aufregung darum hilft den Rechten bei ihrer Propaganda.
Bild: Leider in den Hintergrund geraten: In Chemnitz wurde ein Mann erstochen
Ist das gezielte und vorzeitige [1][Öffentlichmachen des Haftbefehls] wegen
der tödlichen Messerstiche von Chemnitz ein „neuer Justizskandal in
Sachsen“ (Süddeutsche Zeitung)? Wird hier der „Rechtsstaat vorgeführt“
(Spiegel Online)? Ist der Rechtsstaat gar „in Gefahr“ (Deutscher
Richterbund)? Nein, hier wird völlig übertrieben. Das ist nicht nur in der
Sache ärgerlich, sondern auch gesellschaftlich kontraproduktiv.
In Chemnitz wurde ein Mensch erstochen. Und worüber regen sich die
Verteidiger des Rechtsstaats fast am meisten auf? Dass der Haftbefehl gegen
die mutmaßlichen Täter im Internet veröffentlicht wird, mit Klarnamen und
Wohnadresse. Ja, das ist verboten. Aber jeder, der eins und eins
zusammenzählen kann, weiß, dass dies etwas mit der Konstellation zu tun
hat: dass Rechte versuchen, die Tat für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Man kann sich andere Konstellationen vorstellen, in denen die Medien von
einem durchgesickerten Haftbefehl wenig Aufhebens machen würden und sich
eher über die unverhoffte Informationsquelle gefreut hätten. Der Vorwurf
der Rechten, es gebe hier ein Ablenkungsmanöver der „Gutmenschen“, um vom
eigentlichen Skandal, der so genannten „Ausländerkriminalität“, abzulenke…
wird daher in weiten Teilen der Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fallen.
So einfach sollte man es rechter Propaganda nicht machen.
Dennoch ist der Vorwurf des Ablenkungsmanövers falsch. Denn er unterstellt,
dass man schon wüsste, was überhaupt passiert ist. Das ist aber gerade
nicht der Fall. Die Rechten verbreiten Gerüchte, die die Polizei schon seit
Tagen als falsch bezeichnet. Es gebe keine Belege dafür, so die Polizei,
dass die mutmaßlichen Täter eine Frau sexuell belästigt haben und das
spätere Opfer der Frau zu Hilfe kam. Die Rede ist dagegen von einem
eskalierenden Streit zwischen zwei Männergruppen. Das wüsste man natürlich
gerne genauer. Auch der Haftbefehl schildert nichts Konkretes. Doch wenn
zwei Gruppen streiten und es am Ende ein Opfer gibt, ist auch an Notwehr zu
denken. Der Fall ist ein gutes Beispiel dafür, welchen Wert die
Unschuldsvermutung hat. Wer weiß, wie der Fall in einigen Wochen aussieht.
## Das ist kein Whistleblowing
Auch die rechte Erzählung, der Leak des Haftbefehls sei ein Akt des
„Whistleblowing“, liegt daneben. Wo ist denn der Misstand, der hier
aufgedeckt wird? Alles, was im Haftbefehl steht, wäre früher oder später
ohnehin veröffentlicht worden (außer den Namen und Adressen natürlich).
Niemand hätte unter den Teppich gekehrt, dass der irakische Verdächtige
bereits Vorstrafen hatte und in Deutschland nur geduldet war. Nicht jede
vorzeitige Information der Öffentlichkeit ist also ein Whistleblowing.
Umgekehrt ist aber auch nicht zu erkennen, worin nun die große Gefahr für
den Rechtsstaat liegen soll. Der Haftbefehl wurde veröffentlicht, nachdem
die mutmaßlichen Täter festgenommen wurden. Hier wurde also keine
Polizeiaktion gefährdet. Die Informationen sind so spärlich, dass sie
spätere Schöffen oder Zeugen eines Prozesses kaum beeinflussen können. Die
vorzeitige Veröffentlichung eines Haftbefehls mag zwar strafbar sein, in
der Rechtsprechung hat sie bisher aber keine Rolle gespielt. Dass in
manchen verbreiteten Versionen Namen und Adressen (auch von Zeugen) nicht
geschwärzt wurden, verletzt zwar Persönlichkeitsrechte, wäre für sich, also
ohne Verbindung zu einem Dokument des Strafverfahrens, aber nicht strafbar.
Bleibt der Vorwurf, dass der Leak einmal mehr die rechte Unterwanderung der
sächsischen Polizei oder gar der sächsischen Justiz zeige. Doch auch das
sind erst mal nur Spekulationen. Um einen Haftbefehl zu fotografieren und
weiterzugeben, ist genau eine Person erforderlich, vielleicht ist es „nur“
ein Sekretär oder eine Sekretärin. Niemandem ist damit gedient, Weimarer
Endzeit-Szenarien zu befeuern. Die Rechten sind schon irre genug.
Die Strafverfolgung sollte sich auf die konzentrieren, die aus rechten
Demos heraus Menschen aufgrund ihrrs Aussehens angreifen und jagen. Die
Veröffentlichung und Verbreitung des Haftbefehls ist dagegen nur ein
ziemlich unbedeutender Nebenschauplatz.
30 Aug 2018
## LINKS
[1] /Ministerpraesident-in-Chemnitz/!5532222/
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
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Polizei Sachsen
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