# taz.de -- Opposition in der Türkei: Zum Anwalt statt auf die Barrikaden | |
> Nach der verlorenen Wahl zerlegt sich die türkische Opposition selbst. | |
> Dabei wäre gerade jetzt die richtige Zeit, Erdoğan anzugreifen. | |
Bild: Hat's nicht an die Spitze der CHP geschafft: Muharrem İnce | |
Berlin taz | Es ist noch keine sechs Wochen her, da sah es für einen Moment | |
so aus, als könnte die in einem Bündnis vereinte türkische Opposition den | |
Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich in Bedrängnis bringen. | |
Doch seit der Niederlage in der [1][Parlaments- und Präsidentschaftswahl | |
vom 24. Juni] ist die Opposition dabei, sich mit großer Inbrunst selbst zu | |
zerlegen. | |
Das begann bereits in der Wahlnacht. Statt wie angekündigt „bis zuletzt zu | |
kämpfen“ und Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess noch in der Nacht bei der | |
zentralen Wahlkommission anzuzeigen, ließ sich der Hoffnungsträger der | |
größten Oppositionspartei CHP, Muharrem İnce, in der Öffentlichkeit nicht | |
blicken. Stattdessen gestand er gegenüber einem befreundeten Journalisten | |
per Email frühzeitig seine Niederlage ein. | |
Trotz dieser Irritation blieb İnce, der immerhin 31 Prozent als | |
Präsidentschaftskandidat holte, während seine Partei lediglich auf 22,5 | |
Prozent kam, der Hoffnungsträger der Opposition. Die meisten CHP-Anhänger | |
erwarteten, dass er nun – wenn schon nicht die Staatsführung – doch | |
wenigstens die Führung der Partei übernehmen würde. Parteichef Kemal | |
Kılıçdaroğlu, der die CHP seit 2010 führt, hatte ja bereits neun Wahlen | |
gegen die AKP und Erdoğan verloren. | |
Doch Kılıçdaroğlu und seine Funktionärsgarde dachten gar nicht daran, ihre | |
Plätze zu räumen. Gedrängt von seinen Anhängern startete İnce eine | |
Kampagne, um Stimmen für einen Sonderparteitag zu sammeln, auf dem er gegen | |
Kılıçdaroğlu antreten wollte. Seitdem ist die CHP nur noch mit ihrem | |
internen Machtkampf beschäftigt. | |
## Schiedsgericht: kein Sonderparteitag | |
Statt Erdoğan mit dem rasanten Niedergang der türkischen Wirtschaft zu | |
konfrontieren und die Menschen in ihrem täglichen Überlebenskampf zu | |
unterstützen, verbrachten die Spitzenleute der CHP ihre Zeit bei Anwälten | |
und Notaren. Die sollten bestätigen oder bestreiten, dass die notwendige | |
Mehrheit von 630 Delegiertenstimmen, die es braucht, um einen | |
Sonderparteitag durchzusetzen, zusammengekommen ist oder eben nicht. | |
Genüsslich und mit großer Häme begleiteten die Erdoğan-nahen Medien diesen | |
Prozess. Keine Gelegenheit ließen sie aus, die verfeindeten Seiten | |
innerhalb der CHP gegeneinander aufzuhetzen. Am Dienstag hat nun ein | |
Schiedsgericht der CHP entschieden, dass die Delegiertenstimmen für einen | |
Sonderparteitag nicht ausreichen. Zuvor hatten rund 30 Parteitagsdelegierte | |
auf massiven Druck der amtierenden Führung ihre Unterschrift für einen | |
Sonderparteitag wieder zurückgezogen. Zurück bleibt eine demoralisierte | |
Partei, die zumindest im Moment die Hoffnung aufgegeben hat, Erdoğan noch | |
einmal ernsthaft angreifen zu können. | |
## İyi-Partei vor der Auflösung | |
Doch das Desaster ist nicht auf die CHP beschränkt. Die neu gegründete | |
rechtsnationale İyi-Partei ist angesichts der mageren 10 Prozent, die sie | |
in der Parlamentswahl erreichte, schon wieder in der Auflösung begriffen. | |
Sie war im Juni mit großen Erwartungen erstmals angetreten und hatte | |
gehofft, der AKP und der rechtsradikalen MHP konservative Wähler abspenstig | |
zu machen. | |
Meral Akşener, die Gründerin der Partei, hat sich noch nicht entschieden, | |
ob sie bei dem anstehenden Parteitag am 12. August überhaupt noch einmal | |
für die Parteiführung kandidiert. Einige Abgeordnete sind bereits wieder | |
zur MHP übergelaufen. Schon jetzt scheint die Partei gescheitert zu sein. | |
Bleibt die kurdisch-linke HDP, die es zwar wieder ins Parlament geschafft | |
hat, angesichts der anhaltenden Repression aber weitgehend handlungsunfähig | |
ist. Ihre wichtigsten Leute sitzen im Gefängnis. Die anderen müssen sich | |
täglich des Vorwurfs erwehren, „Handlanger von Terroristen“ zu sein. | |
Obwohl die türkische Wirtschaft gerade in eine bedrohliche Krise rutscht | |
und die Regierung sich völlig hilflos zeigt, etwas dagegen zu unternehmen, | |
braucht Präsident Erdoğan die Opposition derzeit nicht zu fürchten. | |
8 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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