# taz.de -- Neues Anti-Terror-Gesetz in der Türkei: Der Putsch steht ihm gut | |
> Mit dem Notstandsgesetz hat Präsident Erdoğan faktisch als Alleinherscher | |
> regiert. Auch mit dem Anti-Terror-Gesetz bleibt die Macht konzentriert. | |
Bild: Festnahme eines Soldaten nach dem Putschversuch 2016. Seitdem baut Erdoğ… | |
ISTANBUL taz | Auch wenn die politischen Interpretationen der Ereignisse | |
weit auseinandergehen, in einem sind sich alle einig: Die letzten zwei | |
Jahre haben das Land so stark verändert wie sonst nichts seit der Gründung | |
der Republik 1923. Rein formal wurde aus der parlamentarischen Demokratie | |
mit einem repräsentativen Präsidenten an der Spitze ein Präsidialsystem, in | |
dem alle Macht in der Hand des Präsidenten vereint wird. | |
Seit Jahren hatte der frühere Ministerpräsident und ab August 2014 | |
repräsentative Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Einführung dieses | |
Präsidialsystems gefordert, doch bis zu dem Putschversuch am 15. Juli 2016 | |
vergeblich. Fast alle Beobachter sind sich einig, dass es ohne den | |
niedergeschlagenen Putsch und den anschließenden [1][Ausnahmezustand] für | |
Erdoğan nicht möglich gewesen wäre, die Verfassungsänderung, die seine | |
Alleinherrschaft nun legitimiert, durchzusetzen. | |
Die zwei Jahre des Ausnahmezustands waren praktisch die Vorwegnahme des | |
neuen Präsidialsystems. Per Notstandsdekret konnte Erdoğan die umfassendste | |
Säuberung von Armee, Polizei, Hochschulen und der gesamten öffentlichen | |
Verwaltung durchführen, die das Land je erlebt hat. Fast 150.000 Menschen | |
verloren ihren Job, ihre Pensionsansprüche ihren Pass und oft auch ihr | |
soziales Leben. Rund 75.000 Menschen wurden festgenommen, etliche blieben | |
in Haft, Hunderte Prozesse im ganzen Land sind seitdem im Gange. Aber das | |
ist nur die Spitze des Eisbergs. Erdoğan regelte per Notstandsdekret auch | |
den Umbau der Justiz und des gesamten Bildungsbereichs. | |
Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen stellt sich bis heute nach wie | |
vor die Frage, was ist damals am 15. Juli und den Tagen davor eigentlich | |
wirklich passiert? Die Antwort darauf ist ernüchternd: Wir wissen es nicht, | |
jedenfalls nicht, was den Kern des Geschehens betrifft. Erdoğan und seine | |
Regierung machten noch in der Putschnacht die Gülen-Sekte und ihren | |
Führer, den in den USA lebenden islamischen Geistlichen Fetullah Gülen, als | |
Drahtzieher des Putsches verantwortlich. Anhänger der Gülen-Sekte im | |
Militär hätten den Putsch vorbereitet und ausgelöst. Eine bevorstehende | |
Entlassungswelle im Militär, die im August hätte stattfinden sollen, sei | |
für den Zeitpunkt des Putsches ausschlaggebend gewesen. | |
Nur, wenn Erdoğan das schon in der Putschnacht wusste, was wusste er dann | |
darüber hinaus? Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der größten | |
Oppositionspartei CHP, hat am Dienstag vor seiner Fraktion noch einmal | |
wiederholt, was er schon früher gesagt hat: Der Putsch sei ein von Erdoğan | |
kontrollierter Putsch gewesen. Der Präsident habe rechtzeitig davon gewusst | |
und hätte ihn im Vorfeld stoppen können, wenn er gewollt hätte. | |
Es gibt viele Indizien dafür, dass die Gülen-Sekte tatsächlich Drahtzieher | |
des Putschversuchs war, auch die Opposition geht davon aus. Doch die | |
Gülen-Leute waren und sind für Erdoğan und seine AKP keine Unbekannten. | |
Mehr als zehn Jahre hatte die Regierung eng mit ihnen zusammengearbeitet, | |
erst Ende 2012, Anfang 2013 kam es immer vehementer zu einem internen | |
Machtkampf der bisherigen Partner, dessen Kulminationspunkt offenbar der | |
Putschversuch war. | |
Rund 240 Zivilisten, die sich nach einem Aufruf Erdoğans in der Putschnacht | |
den Militärs entgegenstellten, wurden getötet, dazu eine ungenannte Zahl an | |
Militärs. Das Parlament, der Präsidentenpalast und das Hauptquartier der | |
Polizei wurden bombardiert. Wenn die Regierung im Vorfeld tatsächlich von | |
dem Putsch gewusst haben sollte und glaubte, ihn kontrollieren zu können, | |
so ist ihr die Kontrolle offenbar entglitten. | |
## Ende des Ausnahmezustands kein Anlass zur Freude | |
Alle Untersuchungen zur Putschnacht sind längst eingestellt, der Vorgang | |
dürfte so umstritten bleiben wie der Mord an Kennedy und andere gewaltsame | |
politische Ereignisse. Für die offizielle türkische Geschichtsschreibung | |
ist dagegen der Widerstand gegen den Putsch längst so etwas wie die | |
Geburtsstunde der „Neuen Türkei“, der Gründungsmythos der Republik | |
Erdoğans. | |
Dass nun das Ende des Ausnahmezustands bei der Opposition so gar keine | |
Freude auslöst, liegt daran, dass die wichtigsten Befugnisse, die der | |
Ausnahmezustand zuvor dem Präsidenten, der Polizei und den vom Präsidenten | |
eingesetzten Gouverneuren der Provinzen zugestand, nun per | |
Anti-Terror-Gesetz weiterhin gelten sollen. Ein Sprecher der CHP, Özgür | |
Özel, sprach von einem „permanenten Notstand“, und die Publizistin Nuray | |
Mert bezeichnete die neue Türkei als „institutionalisierten | |
Ausnahmezustand“. Statt mit Notstandsdekreten kann Erdoğan mit der neuen | |
Verfassung nun per Präsidentendekret regieren, wovon er bereits in den | |
ersten Tagen ausgiebigen Gebrauch gemacht hat. | |
Das am gestrigen Mittwoch im Parlament diskutierte Anti-Terror-Gesetz, das | |
angesichts der Mehrheitsverhältnisse sicher durchgehen wird, sieht vor, | |
dass noch für weitere drei Jahre sämtliche Beamte, Militärs Hochschullehrer | |
und alle anderen Staatsangestellten auf den bloßen Verdacht hin, sie hätten | |
Kontakte zu einer „Terrororganisation“, wie im Ausnahmezustand sofort | |
entlassen werden können. | |
## Demonstrationen und Reisebeschränkungen | |
Die Gouverneure können sämtliche Demonstrationen und Kundgebungen ohne | |
gerichtliche Überprüfung verbieten, sie können sogar einzelnen Personen die | |
Einreise oder die Ausreise aus ihrer Provinz verbieten, was der Vorsitzende | |
der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioğlu, selbst unter dem neuen Recht | |
als verfassungswidrig bezeichnete. Verdächtige dürfen von der Polizei | |
weiterhin für 48 Stunden festgehalten werden, die Polizeihaft kann in | |
Ausnahmefällen sogar auf bis zu 12 Tagen verlängert werden. | |
Keine guten Aussichten für diejenigen, die sich mit Erdoğans „Neuer Türkei… | |
nicht anfreunden können. Der 59-jährige Ahmet Tulgar, Schriftsteller und | |
regelmäßiger Autor in der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet, sagte der | |
taz: „Ich glaube nicht, dass ich zu meinen Lebzeiten noch eine Rückkehr zur | |
Demokratie erleben werde. Aber ich hoffe darauf, dass die Spannungen | |
abnehmen, im Alltag wieder so etwas wie Normalität einkehrt. Die meisten | |
Leute, egal zu welchem politischen Lager sie gehören, wollen die dauernden | |
Auseinandersetzungen nicht mehr. Sie wollen endlich ihre Ruhe haben.“ | |
19 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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