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# taz.de -- Sozialarbeiter über Komasaufen: „Um Spaß geht’s da nicht“
> „Hart am Limit“ (HaLT) hilft Jugendlichen, die mit Alkoholvergiftungen
> ins Krankenhaus kommen. Das werden immer mehr, sagt Chef Jörg Kreutziger.
Bild: Alkoholkonsum kann schnell alle Grenzen sprengen
taz: Herr Kreutziger, Sie beraten Kinder und Jugendliche, die nach einer
Alkoholvergiftung im Krankenhaus landen. Wie erfahren Sie überhaupt von den
Fällen?
Jörg Kreutziger: Wir kooperieren mittlerweile mit 13 Krankenhäusern, in die
die Kinder und Jugendlichen gebracht werden. Am Wochenende ist natürlich am
meisten los. Am Samstag- und Sonntagmorgen rufen wir kurz nach den Visiten
an und fragen, ob dort Fälle eingeliefert wurden, die wir in die Beratung
aufnehmen können. Dann erstellen wir ein Ranking, wo zum Beispiel der oder
die jüngste Klient*in liegt oder wo die meisten Betroffenen sind. Und
innerhalb der Woche kontaktieren uns die diensthabenden Ärzte. Ungefähr
jeder dritte Jugendliche wird unter der Woche eingeliefert.
Wie gehen Sie dann vor?
Ich informiere mich erst einmal bei den Ärzten und dem Pflegepersonal, ob
es Auffälligkeiten gab. Dann suche ich mir mit dem Betroffenen einen
ungestörten Raum, um ein Beratungsgespräch durchzuführen.
Wie reagieren die Jugendlichen auf Ihr Beratungsangebot?
Sie sind häufig erleichtert, mit jemandem reden zu können. Wir bieten einen
wertfreien Raum, in dem sie ihre Geschichte erzählen können. Die Eltern
sind zunächst ganz bewusst nicht bei dem Gespräch dabei, so können die
Betroffenen ihren Gefühlen auch mal freien Lauf lassen. In der Regel sind
sie sehr beschämt, weil sie behandelt werden mussten.
Gibt es auch Jugendliche, die nicht mit Ihnen reden wollen?
Große Blockaden oder Widerstände gibt es eigentlich nicht. Manche haben
Angst vor Sanktionen, die sie von uns aber nicht zu erwarten haben. Wir
stellen den Jugendlichen immer frei, das Gespräch abzulehnen. Aber das ist
in zehn Jahren nur drei- oder viermal passiert.
Was sind denn die Hauptgründe für den riskanten Alkoholkonsum?
Genau das erfragen wir seit zehn Jahren. In den vergangenen Jahren waren
das immer die Faktoren „Spaß“ und „Neugier“, seit letztem Jahr sind je…
die „Problemtrinker“ die größte Gruppe. Es kristallisiert sich heraus, da…
viele Jugendliche Leistungsdruck, Mobbing, Depressionen oder ADHS als
Motive benennen und von familiären Problemen und Traumatisierungen
berichten.
Was passiert mit den Jugendlichen nach dem Gespräch im Krankenhaus?
Im besten Fall habe ich nach dem ersten Gespräch eine Einschätzung, in
welchem Umfang die Betroffenen Alkohol konsumieren. Falls es sich um einen
klassischen Fehltritt handelt und der Jugendliche adäquat reflektiert ist,
würde ich ihn nicht zu einem weiteren Gespräch einladen. Wenn jedoch nicht
reflektiert wird und ein regelmäßiger Risikokonsum stattfindet, lade ich
die Jugendlichen ein. Zwei bis drei Tage nach dem Krankenhausaufenthalt
erhalten sie einen Termin in unseren Projekträumen. Von den Eingeladenen
kommen etwa 65 bis 70 Prozent auch bei uns an. Wir nehmen zudem Kontakt zu
den Eltern auf, die oft auch schon im Krankenhaus vor Ort sind.
Wie können Sie den Jugendlichen helfen?
Wenn die Betroffenen selbst eine Änderung ihres Verhaltens wünschen,
erarbeiten wir mit ihnen zusammen eine Strategie: Wie können sie auch ohne
den kompletten Verzicht auf Alkohol verhindern, erneut mit einer
Alkoholvergiftung im Krankenhaus zu landen?
Das dürften die einfacheren Fälle sein …
Wenn der Wunsch nach Veränderung noch nicht vorhanden ist, arbeiten wir
daran, ob er nicht doch einer werden kann. Manche Jugendlichen kommen bis
zu fünfmal zu uns. Wenn wir feststellen, dass bereits ein Konsum im Sinne
einer Sucht stattfindet, vermitteln wir weiter an Suchtberatungsstellen,
Jugendpsychotherapeuten oder Entgiftungskuren.
Stellen Sie bei den Beratungen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen
fest?
Ja. Wir haben viele Mädchen im Projekt, drei Viertel der unter 15-jährigen
Mädchen sagen, dass sie aufgrund von persönlichen Problemen trinken. Das
finden wir besonders besorgniserregend, und deshalb entwickeln wir aktuell
neue Beratungskonzepte.
Eigentlich darf Kindern und Jugendlichen unter 16 gar kein Alkohol verkauft
werden.
Den kriegen sie trotzdem. Der Alkohol kommt von älteren Freunden, oder sie
kaufen ihn selber.
Laut einer Studie von 2017 trinken 11- bis 17-Jährige in Deutschland immer
später zum ersten Mal Alkohol, sie trinken immer seltener und praktizieren
auch seltener Rauschtrinken. Auch in Berlin ging die Zahl der Komatrinker
in letzter Zeit zurück. Macht sich das bei Ihnen bemerkbar?
Nein, unsere Fallzahlen steigen. Wir haben 2016 233 Jugendliche beraten,
2017 hat sich das auf 254 erhöht. Für dieses Jahr rechnen wir mit einem
riesigen Sprung auf ungefähr 300 Jugendliche, die wir bis zum Ende des
Jahres aufgenommen haben werden
Wieso dieser Anstieg?
Genau erklären können wir uns das nicht. Aber wir vermuten, das wir einfach
eine bessere Kooperation mit den Kliniken haben, sodass mehr Jugendliche an
uns vermittelt werden. Wobei wir davon ausgehen, dass wir vermutlich 180
und 200 junge Menschen mit Alkoholvergiftungen in Berlin in diesem Jahr gar
nicht erst erreichen werden.
Was müsste passieren, um auch mit diesen in Kontakt zu kommen?
Schon jetzt ist es so, dass wir mindestens das doppelte Personal, also
vielleicht acht Personen, bräuchten, um diejenigen zu versorgen, die wir
vermittelt bekommen. Und wir stehen noch gar nicht mit allen großen
Berliner Krankenhäusern in Kooperation. Darüber hinaus gibt es eine
wachsende Gruppe von Jugendlichen, die aufgrund einer THC-Vergiftung oder
wegen illegaler Drogen notbehandelt werden müssen. Auch hier braucht es
mehr Personal.
Was müsste sich ändern, damit Jugendliche sich seltener bewusstlos trinken?
Es ist wichtig, mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen. Das fängt in
den Elternhäusern an. Sehr oft haben die Eltern – das betrifft alle
Bildungsschichten – vor diesem erstmaligen Vorfall einer Alkoholvergiftung
noch nicht mit ihren Kindern über Alkohol gesprochen. Hier muss man also
die Eltern unterstützen, indem man ihnen Workshops, Kurse oder Beratung
anbietet.
Und die Schulen?
Auch in den Schulen sollte Alkohol unbedingt ein Thema sein. Es geht darum,
nicht nur irgendwelche Regeln herunterzukauen, sondern die Kompetenz der
Jugendlichen zu verbessern, sie in ihrer Haltung zu stärken. Da Jugendliche
vermehrt aufgrund eines Leistungsdrucks trinken, müssen wir auch darüber
reden – nicht nur in der Schule, sondern in einem gesellschaftlichen
Diskurs.
12 Aug 2018
## AUTOREN
Magnus Rust
## TAGS
Alkoholmissbrauch
Jugendkultur
Kolumne Die Nafrichten
Alkohol
Leitkultur
Jugend
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