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# taz.de -- Das WM-Gastgeberland: Wo aus Russen Leute werden
> Wie modern das Land ist, das hat viele Fans überrascht. Eine armselige
> Erkenntnis. Eine andere wäre wichtiger: dass man für Freiheit kämpfen
> muss.
Bild: So isst er, der Russe. Ist er so?
Russen und Russinnen sind also auch Menschen. Das wird als die große
Erkenntnis dieser Weltmeisterschaft verkauft. Sie können sich freuen, Party
machen, sind neugierig, essen gerne Dinge, die ihnen gut schmecken, stoßen
mit Bier, Wein oder Wodka an, wenn sie glauben, Freunde für einen Abend
gefunden zu haben, freuen sich über Erfolge ihrer Nationalmannschaft und
sind auch sonst ganz nette Leute. Wer hätte das gedacht? Kaum einer, wie es
scheint.
Die Überraschung und Freude darüber, dass [1][eine WM in Putins Reich] zu
einer echten Party werden konnte, zeigt, wie mies das Bild von den Russen
in der Welt gewesen sein muss, bevor die erste WM-Sause nach dem 5:0 der
Russen im Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien gefeiert wurde. Im Reich des
Bösen müssen Böse wohnen, scheint man sich gedacht zu haben. Umso seliger
ist die Welt, nachdem sie festgestellt hat, dass dem doch nicht so ist.
Eigentlich ist es eine armselige Erkenntnis. Man hätte ahnen können, dass
in Russland Menschen leben. Doch es hat dieses Turnier gebraucht, um aus
Russen Leute werden zu lassen. Dafür hat es sich gewiss gelohnt, die WM in
dieses doch so fremde Land zu vergeben. Es könnte das größte Erbe dieser
vier Wochen sein. Das wäre umso nachhaltiger, wenn der Blick nach Russland
auch in Zukunft öfter auf diejenigen gerichtet würde, die in dem Land
leben, und nicht allein auf den, der es beherrscht.
Da waren diese Nachtzugfahrten, von denen viele Fußballreisende in diesen
Tagen erzählen. Wie man nach einer Nacht auf der Pritsche das Essen teilt,
gemeinsam Tee trinkt und versucht, sich gegenseitig seine Lebensgeschichte
zu erzählen, obwohl die Fremdsprachenkenntnisse der Beteiligten dafür nun
eigentlich gar nicht ausreichen. Da waren die vielen Umarmungen vor und in
den Stadien, das gemeinsame Tanzen in den Innenstädten, da sind die
unzähligen Selfies von Russen mit Kolumbianern, Mexikanern, Nigerianern,
Isländern oder Kroaten, die die sozialen Netzwerke in diesen Wochen
geflutet haben.
## Fan-Ausweis als Freibrief
Da ist das Staunen darüber, dass man nur eine Fußball-WM ausrufen muss, und
schon Menschen aus allen Erdteilen in eine Stadt wie Samara strömen, die
lange Jahre von Ausländern gar nicht betreten werden durfte. Tränen der
Freude sind darüber vergossen worden, und auch bei manchem Abschied ist
geweint worden, weil sich da zwei intensiver aufeinander eingelassen haben
als die vielen Paare, die sich während der WM über Tinder für ein paar
Stunden zusammentaten. Die WM war in vieler Hinsicht ein Geschenk, für die
Einheimischen wie für die Fußballglobetrotter, die das Land für vier
Wochen so bunt gemacht haben.
Die standen unter einem besonderen Schutz. Wer einen Fan-Ausweis um den
Hals baumeln hatte, durfte auch schon mal in der Öffentlichkeit an einer
Flasche Bier nuckeln, obwohl das eigentlich verboten ist. Und wenn ihn doch
ein Polizist darauf aufmerksam machte, tat er das mit einem Lächeln im
Gesicht. Dass dieses Lächeln bleibt, ist unwahrscheinlich. Schon in den
letzten Tagen des Turniers ist zu merken, dass sich die Polizei wieder
unbeobachtet fühlt. Sie kann wieder tun, was sie immer tut.
In den U-Bahnhöfen werden Menschen mit dunklerer Hautfarbe herausgewinkt.
Die Pässe der Kaukasier, der Usbeken, Turkmenen oder Tadschiken, die in der
Stadt sind, auch weil es jemanden braucht, der für wenig Geld den
Plastikmüll von den Straßen entfernt, auf denen die Fußballwelt gefeiert
hat, werden kontrolliert. Es ist eine erniedrigende Prozedur, der sich, wer
russisch genug aussieht, nicht unterziehen muss. Man möchte diesen Leuten,
die von den Russen „Schwarze“ genannt werden, am liebsten eine Fan-ID um
den Hals hängen, um ihnen zumindest für einen Tag die entwürdigende
Kontrolle zu ersparen. Diesen Schwarzen hat die Fußball-WM nicht geholfen.
Und obwohl sich viele Reisende aus dem Westen [2][über das moderne Russland
gewundert haben], weil sie sich das Land viel sowjetischer vorgestellt
hatten, als es ist, obwohl sie sich gefreut haben, dass allüberall in den
Städten das Mobilfunknetz so gut ist, dass sich niemand die Frage stellt,
wo man sich ins nächste WLAN einloggen kann, obwohl sie staunend
festgestellt haben, dass auch an Russlands Sommerstränden zu seichter
Popmusik Beachvolleyball gespielt wird, so sind sie doch erstaunlich oft
dem Wunsch begegnet, einfach abzuhauen aus diesem Land.
## Ein Vermächtnis dieser Weltmeisterschaft
Da ist der Arzt, der Englisch lernt, weil er seinem Kollegen nach London
folgen will, sobald es geht. Da ist der junge Mann in der Kaffeebude, der
den Preis für einen Becher Cappuccino nennt und im selben Atemzug fragt, ob
es möglich ist, nach Deutschland zu emigrieren. Da sind die jungen, gut
ausgebildeten Menschen, die Designerin, der Architekt, der Ökonom, die
nichts in ihrer Heimat hält. Nicht die vielen Hipstercafés, die es nicht
nur in Moskau gibt, nicht die bunte globalisierte Warenwelt, die in
unzähligen Shoppingmalls feilgeboten wird, nicht das gute alte russische
Speiseeis, über das sich so viele WM-Touristen gefreut haben. Nichts. Ihnen
fehlt etwas in Russland. Es ist die Freiheit.
Die, die da wegwollen, sind nicht die großen Kämpfer. Wären sie welche, sie
säßen in den Lagern Russlands, wie diejenigen, die man für Jahre wegsperrt,
nur weil der Obrigkeit nicht passt, was sie denken. Sie haben die Schnauze
voll von der allgegenwärtigen Korruption, an die sie auch immer denken
müssen, wenn sie die schönen neuen Fußballstadien sehen, die für das
Fußballvolk gebaut wurden und damit sich die reichsten den Landes noch ein
wenig mehr bereichern können.
Sie wollen nicht mehr akzeptieren, dass da einer immer wieder gewählt wird,
obwohl sie selbst niemanden kennen, der Wladimir Putin die Stimme gegeben
hat. Sie wollen sich frei in der Welt bewegen, zumindest im Internet wollen
sie sich nicht kontrollieren lassen. Und sie haben die Schnauze voll von
Sprechverboten, von Zensur und ganz einfach davon, dass man nicht so leben
kann, wie man es gerne möchte. Es sind die Besten des Landes, die da in
Richtung Freiheit gehen wollen.
Vielleicht ist auch das ein Vermächtnis dieser Weltmeisterschaft, eines,
das bedeutender ist als die Frage, ob die vielen nagelneuen Stadien von den
Fans der mittelmäßigen Klubs, die darin spielen werden, in den nächsten
Jahren gefüllt werden können. Vielleicht nehmen die WM-Reisenden aus der
westlichen Welt ja etwas mit von dieser Sehnsucht nach Freiheit, die fast
überall in Russland zu spüren ist.
Sie könnten diese Sehnsucht als Auftrag verstehen, sich selbst ihrer
Privilegien bewusst zu werden, sich klarzumachen, dass Freiheit auch in
Frankreich, England oder Deutschland nicht gottgegeben ist, dass sie
verteidigt werden muss, wenn jemand sie angreift. Wenn nur ein paar der nun
wieder abreisenden Fans die Erkenntnis aus Russland mitnehmen würde, dass
wahre Freiheit ein hohes Gut ist, dann könnte man die WM 2018 vielleicht
wirklich als die beste aller Zeiten bezeichnen.
16 Jul 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
Frauen-WM 2019
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