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# taz.de -- Die Wahrheit: Im Stauraum der Weltgeschichte
> Die Kulturstadt Kassel verdankt Jörg Mettmann viel. Er betreibt mit
> großer Begeisterung historisch ins Gewicht fallende Räumlichkeiten.
Feieeerabend“, tönt es aus den Lautsprechern eines mitteldeutschen
Discounters nahe Kassel-Kulturbahnhof. Jörg Mettmann rafft hastig ein paar
Schrippen an der SB-Theke zusammen, klemmt sich ein Glas Schinkenröllchen
mit Spargel unter den Arm. Einen Tag lang begleitet die Wahrheit den
57-jährigen Nordhessen, der aus einer längst abgelaufenen ABM-Maßnahme von
1990 über die Jahre und Jahrzehnte ein florierendes, weltumspannendes
Einmann-Unternehmen gemacht hat. Auf Förderung vom Amt ist Mettmann längst
nicht mehr angewiesen. Denn was einst findige Beamte kurz nach dem
Mauerfall als „Stauraum von Kassel“ und Vorläufer der heute an jeder
Ausfallstraße gelegenen „Self Storages“ ersonnen hatten, dient längst nic…
mehr nur Freiberuflerinnen oder Familienvätern als Zwischen- respektive
Endlager.
Der gelernte Schwimmbad-Techniker schließt zahlreiche verrostete
Vorhängeschlösser auf. Wir sind ums Eck vom Discounter an seiner unter-
sowie oberirdischen Wirkungsstätte angekommen. Mettmann bittet uns in sein
„Allerheiligstes“ herein. Aus seinem Sekretär entnimmt er zwei halbe Bier.
„Es muss 1992 gewesen sein, als es an meine Stauraum-Tür klopfte.“ Draußen
ein Mann japanischer Anmutung mit buschigen Augenbrauen und Bücherkarton.
„Alles voll darin mit Ernst Jünger, von dem hatte ich bereits eine Etage
voll.“ Der Kunde zückte seine Visitenkarte. „Francis Fukuyama“ habe da
draufgestanden und darunter „Das Ende der Geschichte“ in „fetten“
Buchstaben. „Was kann ich noch für Sie tun?, habe ich ihn höflich gefragt.�…
## Endpunkt der Geschichte
Fukuyama, „er ist übrigens begeisterter Pilstrinker“, Fukuyama habe ihm
einen nur von Pinkelpausen unterbrochenen Vortrag gehalten, des Inhalts,
dass nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der kommunistischen
Systeme, nun, um mit Hegel zu sprechen, „der war übrigens auch begeisterter
Pilstrinker“, endlich ein Endpunkt der Geschichte da sei. Dafür stehe ja
nun mal Hegels Phänomenologie des Geistes. Er, Mettmann, habe nur Bahnhof
verstanden und Fukuyama für die von ihm mitgeführte 160 Kilometer lange
Berliner Mauer einen „Stauraumpreis von damals monatlich 190 Mark“
berechnet. „Die zahlt der heute noch pünktlich.“ Allerdings kämen jetzt
hier im Stauraum zunehmend Menschen vorbei, die „ihre“ Mauer wiederhaben
wollten. „Ich sage dann immer, da müssen Sie sich an Herrn Fukuyama
wenden, der hat die hier bei mir eingelagert.“
Für Jörg Mettmann beginnt an diesem windigem Herbsttag eine historisch
beispiellose Erfolgsgeschichte. Fast alle gewesenen und aktuellen Player
dieser Welt, „und wir haben ja nur eine Welt, sag’ ich immer, die ist viel
zu zugemüllt, denn die Leute können sich nicht trennen von Sachen oder
zumindest Stauraum dafür finden“, also die meisten Player dieser Welt gaben
und geben sich bei dem weißblonden schmächtigen Mann die Klinke in die
Hand. Und etwas, „ich sag’ jetzt mal, Historisches“ ab. Er kümmere sich
dann „akribisch“ um die Hinterlassenschaften aus Politik und Wirtschaft,
Sport und Gesellschaft.
Sind die 160 Kilometer der Berliner Mauer im schattigen Gartenflügel
untergebracht, so stoßen wir wenig später im Taschenlampenlicht auf 16
fette Jahre der Ära Kohl im zweiten Untergeschoss. Im Herbst 1998 habe ihn
Oskar Lafontaine besucht, der damals noch im Auftrag von Gerhard Schröder
ein Rotwein-Abo auf Lebenszeit für die Einlagerung der Ära Kohl zusagte.
„Da hab’ ich nicht nein gesagt, obwohl ich schon wusste, dass die Ära über
die Jahre noch stärker müffeln würde.“ Des Weiteren war Mettmann klar, dass
niemand mehr, „auch kein großer Player“, irgendwann die Ära Kohl
zurückholen würde, „sprich, das zweite Untergeschoss ist auf ewig belegt.“
## Verwinkelte Dachkammern
Anders dagegen die Situation in den verwinkelten Dachkammern des Kasseler
Stauraums, der insgesamt eine Größe von rund 358.000 Quadratmetern hat.
Hier etwa kam einst für kurze Zeit und auf Veranlassung von Hillary Clinton
die früherere US-Praktikantin Monica Lewinsky unter. „Frau Lewinsky hat
sich dann selbst ihre sieben Sachen zusammengesucht und kurz vor der
Jahrtausendwende Kassel verlassen.“ Seitdem sei in den Dachkammern ein
stark „temporärer Stauraum der Weltgeschichte“ entstanden.
Zurück vom Nordkorea-Gipfel habe Donald Trump jetzt Zwischenstation bei ihm
gemacht. „Er trinkt ja nicht, da habe ich Kaffee gekocht und ihm die
Dachkammern gezeigt. Trump lagere dort nun „kurzzeitig“ militärisches
US-Gerät aus Südkorea ein. „Den Plunder hol ich mir wieder“, seien seine
Abschiedsworte gewesen. Auch wir verabschieden uns von Mettmann und seinem
Kasseler Stauraum. Im Discounter an der Ecke zischen wir eine letzte Halbe,
dann laufen wir zum Kulturbahnhof, Kultur tanken. Auch wir haben mit der
Geschichte noch nicht abgeschlossen.
16 Jun 2018
## AUTOREN
Harriet Wolff
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