# taz.de -- taz-Serie Neu-Berliner: Einsatz für eine freie Zone | |
> Die Neue Musik ist für ihn ein Freiraum. Im elften Teil ihrer Serie | |
> trifft sich Henriette Harris mit dem türkischen Komponisten Turgut | |
> Erçetin. | |
Bild: Will sich mitteilen mit seiner Musik: der Komponist Turgut Erçetin | |
Der kleine Junge zeigt mir vier Finger. So wie alle deutschen Vierjährigen | |
es tun, wenn man sie fragt, wie alt sie sind. Dann versucht er, seinen | |
Kaugummi in die Tasche meines Rocks zu stecken. Er erzählt, dass sein Name | |
Isyan ist und dass Kaugummi auf Türkisch „sakız“ heißt. Sein Vater, der | |
hinter der Bar steht, erklärt, dass Isyan auf Türkisch „Widerstand“ | |
bedeutet. | |
Ich bin im Cafe Karanfil – türkisch für die Widerstandsblume „Nelke“ �… | |
der Mahlower Straße in Neukölln und bestelle einen türkischen Kaffee, | |
während ich auf Turgut Erçetin warte. Der türkische Komponist lässt sich | |
gerade im Gewerbehof gegenüber fotografieren, wobei es nach einem schönen | |
sonnigen Tag natürlich genau in dem Moment zu regnen angefangen hat. | |
In der Wartezeit erzählt mir der freundliche Bartender, der deutlich | |
weniger rebellisch als sein Sohn wirkt, dass er Turgay Ulu heiße und | |
Journalist in der Türkei war. Von 1996 bis 2011 saß er wegen seiner | |
politischen Tätigkeit im Gefängnis, dann flüchtete er nach Griechenland. | |
Seit fünf Jahren ist er nun in Berlin. Er gibt mir ein Exemplar der Zeitung | |
Daily Resistance, die er mit anderen zusammen macht. „Sogenannte | |
Flüchtlinge“, wie er sagt, „die entschieden haben, ihre Entmündigung durch | |
den deutschen Staat nicht zu akzeptieren.“ | |
Der Fotosession ist vorbei und Turgut Erçetin ist zurück. Sein blaues Hemd | |
ist nass, er wischt seine Brille ab. Wir reden auf Englisch, weil sein | |
Deutsch, wie er meint, noch nicht gut genug sei. „Aber ich mache einen | |
Intensivkurs. Also das nächste Mal“, verspricht Erçetin, der 2016 mit dem | |
Berliner Künstlerprogramm als Komponist für Neue Musik in die Stadt | |
gekommen ist. | |
## Politisch aktiv | |
Geboren wurde Turgut Erçetin 1983 in Istanbul als Kind der oberen | |
Mittelschicht, aber schon als Schüler fing er an, ein naheliegendes Viertel | |
zu frequentieren, das von Linken dominiert und Kurtarılmış Bölge genannt | |
wurde, was „befreite Zone“ bedeutet. Richtig politisch aktiv aber wurde | |
Turgut Erçetin dann um 2000 herum. | |
„Der Staat hat damals in den Gefängnissen die Verhältnisse für die Insassen | |
verschlechtert, sodass sie noch mehr isoliert wurden, und mehrere Hundert | |
Häftlinge haben einen Hungerstreik gemacht, wobei viele gestorben sind“, | |
erzählt er. „Und wir haben die Kampagne außerhalb der Gefängnisse geführt. | |
Aber die türkische Gesellschaft hat das ignoriert. Menschen in den | |
Gefängnissen wurden vom Staat brutal misshandelt und die Gesellschaft tat, | |
als sei nichts geschehen. Schon bevor ich ins Ausland ging, habe ich mich | |
in der Türkei im Exil gefühlt. In den letzten Jahren wurde auch die | |
Mittelklasse vom staatlichen Druck betroffen. Aber fragst du bei den | |
Kurden, bei den Armeniern, bei der LGBT-Szene, dann würden sie sagen, dass | |
sich nichts verändert hat. Für sie war es seit Jahrzehnten so“, sagt | |
Erçetin. | |
Er bestellt ein Bier. Das trägt den Namen 1312 Sabotage Pils und wird | |
gleich um die Ecke gebraut. Turgay Ulu ist mit seinem kleinen Widerstand | |
nach Hause gegangen, und seinen Platz hinter dem Schanktisch hat Andrew | |
übernommen. Er ist US-Amerikaner, spricht perfekt Deutsch und ziemlich viel | |
Türkisch. Kurz unterhält er sich mit Turgut Erçetin, es geht um den | |
türkischen Sänger, der gerade im Café gespielt wird. Ob es eine Liveversion | |
sei oder nicht. | |
„Eigentlich fing ich an, Journalistik zu studieren, und ich habe auch für | |
die Zeitung Özgür Gündem gearbeitet, wo meine Redakteurin die Soziologin | |
Pınar Selek war, die jahrelang in der Türkei juristisch verfolgt wurde“, | |
sagt Turgut Erçetin. „Aber ich habe mich immer eher als politischen | |
Aktivisten denn als Journalisten gesehen, und meine Vorstellungen von | |
Journalistik wurden auch nicht gerade von den türkischen Mainstreammedien | |
erfüllt.“ | |
## Spätromantik und Krautrock | |
Seit seiner Kindheit spielt Erçetin Gitarre, und so hat er die Journalistik | |
aufgegeben und angefangen, in Istanbul Musik zu studieren. Danach ging er | |
in die USA, wo er seinen Doktor in Komposition an der Stanford University | |
in Kalifornien gemacht hat. | |
„Schon mit 14, 15 Jahren fing ich an, kleine Kompositionen zu machen. Ich | |
war von der Spätromantik wie von Gustav Mahler inspiriert. Auch den | |
deutschen Krautrock aus den 1970er Jahren habe ich gehört. Mein Vater war | |
in Deutschland gewesen und hat verschiedene Schallplatten mit nach Hause | |
gebracht. Eines Tages fand ich ein Tonband. Ich dachte, da wären drei | |
verschiedene Orchester zu hören, die gleichzeitig drei verschiedene | |
Kompositionen spielen würden. Aber es war das Werk ‚Gruppen‘ von Karlheinz | |
Stockhausen aus den 1950er Jahren. Komponiert für drei Orchester, aber in | |
einem einzigen Stück. Da habe ich entschieden: So was möchte ich auch | |
machen“, erzählt Turgut Erçetin. | |
Im Moment ist er oft in Köln, für ein Projekt mit dem dort ansässigen | |
Ensemble Musikfabrik. Auch eine Komposition für das SWR Symphonieorchester | |
ist in Arbeit. „Eine der schönen Sachen in Deutschland: Ich kann mit einem | |
Weltklasseorchester arbeiten, obwohl meine Musik anspruchsvoll ist. Um es | |
milde auszudrücken“, sagt er. | |
„Deutschland hat natürlich seine Probleme, aber ich muss sagen: Berlin ist | |
mein Zuhause. Hier habe ich ein familiäres Gefühl. Die Leute respektieren | |
mich als Künstler und als Mensch. Das habe ich so noch nie gesagt, auch | |
nicht in den USA“, sagt er und wirkt, als ob er fast selbst ein bisschen | |
überrascht sei. Während seiner Zeit in Kalifornien reiste er einmal im Jahr | |
in die Türkei. Jetzt nicht mehr. Es habe keinen Sinn, wie er sagt. Ich | |
frage ihn, ob es in der Türkei gefährlich für ihn wäre. „Das fragen die | |
Leute manchmal. Es ist schwierig zu beantworten. Aber man weiß nie. Es gibt | |
in der Türkei kein Gesetz. Nur ein Bild von dem Gesetz“, sagt er. | |
Nach dem ersten Jahr im Berliner Künstlerprogramm entschied er, eine | |
Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Zunächst kann er bis 2019 | |
bleiben. | |
## Gefühl von Demokratie | |
Ich möchte wissen, wie es ist, als neuer Türke in einer der größten | |
„türkischen“ Städte außerhalb der Türkei zu leben. | |
„Viele Türken, die hier seit Generationen sind, haben eine Sehnsucht nach | |
einer Türkei, die nicht länger existiert. Ihr Bild vom Land gibt es in der | |
Wirklichkeit nicht mehr. Dieses Bild ist alles, was sie sich wünschen, aber | |
sie können es vergessen. Wenn ich mit den jungen Türken hier rede, dann | |
sind wir uns oft uneinig. Zum Beispiel fragen sie mich, warum ich | |
Deutschkurse besuche. ‚Warum hast du so eine Eile? Es gibt so viele | |
türkische Communities in Berlin. Brauchst du gar nicht‘, sagen sie“, | |
erzählt er. | |
Viele seiner Freunde, auch seine türkische Freundin, die in Belgien als | |
Biophysikerin arbeitet, machen sich Sorgen über die rechtspopulistischen | |
Strömungen in Deutschland. | |
„Klar, man kann sie nicht ignorieren“, sagt Erçetin dazu. „Aber es gibt | |
auch genau das Gegenteil. Es gab da diese Demonstration der Berliner Pegida | |
in Charlottenburg, aber es gab auch eine Gegendemonstration, und ich war | |
da, und das war toll zu erleben. Das ist, was in der Türkei fehlt. In so | |
einer Situation hast du wirklich das Gefühl von einer Demokratie“, sagt er. | |
Seine Zukunft kann er sich gut in Deutschland vorstellen. Derzeit wohnt der | |
Komponist in Kreuzberg, vorher war es Charlottenburg, wo es ihm auch | |
gefallen hat. | |
„Ich habe mit vielen Menschen dort geredet und von denen gelernt. Ohne | |
Konfrontation und Feedback kommt man nicht weiter. In der Türkei | |
infiltriert der Staat alles, und viele fragen mich: Was willst du mit | |
dieser Neuen Musik? Für mich ist die eine freie Zone, wo der Staat mich | |
nicht erreichen kann. Manche fragen sich: Schaffe ich das? Aber sie müssen | |
anders denken. Ich frage mich: Wie mache ich meinen Beitrag? Was möchte ich | |
den Berlinern mit meiner Musik geben? Worum sollten sie sie hören?“ | |
So sagt er es und beantwortet gleich die Fragen: „Ich fühle mich | |
verantwortlich, mit meiner Musik Geschichten zu erzählen und mit den | |
Menschen, die hier sind, zu kämpfen. Es sind angsterregende Zeiten. Man | |
kann Angst haben, das ist dann eine Reaktion. Und man kann ein Feigling | |
sein, das ist dann ein Charakterzug. Lasst uns mal zusammen Angst haben, | |
aber erlauben wir uns nicht, Feiglinge zu sein“, sagt Turgut Erçetin. | |
3 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Henriette Harris | |
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