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# taz.de -- Buch über Obdachlosigkeit: Feindliche Umgebung
> Sohn von Antifaschisten, Schulschwänzer, Heimkind – In „Kein Dach über
> dem Leben“ erzählt Richard Brox von seinem Weg in die Obdachlosigkeit.
Bild: Richard Brox mit dem Buch über sein Leben
Wir sitzen in der Bahn, die Tür geht auf, ein Obdachloser betritt die Bahn
und bittet die Mitfahrenden um Geld. Ein Großteil der Passagiere wird
sogleich intensiv wegsehen. Andere werden so tun, als sei dieser Mensch gar
nicht da. Vereinzelt werden beinahe schon beschämt ein paar Münzen gezückt
und vielleicht sogar Blicke oder Worte getauscht.
Ob die Menschen in der Bahn oder auf der Straße nun weiterhin ihre
Vorurteile gegenüber Obdachlosen pflegen („Die sind doch selbst schuld!“),
ob die Obdachlosen sie mit bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten, Leid und
Schicksal konfrontieren oder ob sie sich einfach ohnmächtig ob dieser
Konfrontation fühlen: Unabhängig von individuellen Beweggründen wird
Obdachlosen in der Öffentlichkeit meist ein Verhalten entgegengebracht, das
tendenziell entwürdigend und respektlos ist – ein Absurdum angesichts einer
Prognose von 1,2 Millionen Wohnungslosen in Deutschland für das Jahr 2018
(Quelle: BAG Wohnungslosenhilfe e. V.; eine amtliche Statistik existiert
nicht).
Der Autor Richard Brox entkräftet nun mit seiner Lebensgeschichte gängige
Ressentiments gegenüber Menschen, die auf der Straße leben. In
Zusammenarbeit mit dem Journalisten Dirk Kästel und dem Autor Albrecht
Kieser hat er „Kein Dach über dem Leben – Biographie eines Obdachlosen“
veröffentlicht.
## Albträume der Eltern
Brox schildert, wie er (geboren 1964) seine Kindheit auf dem Flur einer
Zweizimmerwohnung in Mannheim zubrachte, in der er mit seinen vom Zweiten
Weltkrieg schwer traumatisierten Eltern lebte. Beide Eltern waren im
Widerstand gegen das Nazi-Regime und wurden als politische Häftlinge in
Konzentrations- und Arbeitslager deportiert. Unfähig, ihrem Sohn Zuwendung,
Liebe und Zärtlichkeit entgegenzubringen, ignorierten die Eltern Richard
Brox weitestgehend und hielten ihn an, sich möglichst ruhig und passiv zu
verhalten, während er selbst hilflos das nächtliche Geschrei der Eltern
ertragen musste, die unter ihren Albträumen litten.
Brox war notorischer Schulschwänzer: „Mit vielen, mir fremden Kindern und
einem strengen Lehrer einen halben Tag in einem Raum eingesperrt zu sein,
das erzeugte in mir Fluchtimpulse. Die Schule überforderte mich
hoffnungslos.“ Dem Jugendamt lieferte dieser Umstand ein maßgebliches
Argument dafür, Brox unzählige Male von seinen Eltern zu trennen und in
verschiedenen Kinderheimen unterzubringen, aus denen er sämtlich floh –
meist auf direktem Wege zurück zu seinen Eltern: „Meine Überlebensform in
diesen Jahren war die im Inneren zwar zerrissene, aber nach außen
zelebrierte familiäre Einheit, die durch unsere Gegnerschaft gegen die
feindliche Umgebung gestiftet wurde.“
Jedoch dürfte es nicht nur die Sehnsucht nach seinen Eltern gewesen sein,
die Brox dazu bewog, die Flucht aus den Kinderheimen anzutreten: Im Buch
finden sich Schilderungen diverser traumatischer Erfahrungen, die Brox als
Kind in den Heimen machen musste. Erziehungs- und Strafmaßnahmen für
vermeintliche oder tatsächliche Vergehen reichten von Essensentzug über
psychische bis hin zu körperlichen Misshandlungen. Bis in die 1990er Jahre
hinein wurde eine solche Gewaltausübung in Kinderheimen von staatlicher
Seite gebilligt oder zumindest nicht unterbunden. Brox beschreibt auch
einen Vorfall, bei dem er Opfer einer sexuellen Belästigung seitens eines
Betreuers wurde. Das machte ihn unfähig, gegen die autoritären Strukturen
auszusagen.
Mit jeder Flucht gewöhnte sich Brox mehr an das Leben auf der Straße und
konnte sich dort erfahrener und selbstbewusster bewegen. Die Nächte
verbrachte er oft bevorzugt in Telefonzellen oder Notunterkünften.
Besonders eindrücklich vermittelt Brox hier die Schutzlosigkeit, die das
Leben auf der Straße bedeutet: Obdachlose haben keinerlei
Rückzugsmöglichkeiten und müssen in der Folge permanent auf der Hut sein
und auch mit Gewalt rechnen: „Fluchtmöglichkeiten gibt es nicht. Deine Tür
ist immer offen, du bist die Tür.“
## 11 Jahre auf Kokain
Mit zunehmendem Alter verstärkte sich auch Brox’ Drogenabhängigkeit:
Bereits im Alter von 13 Jahren – nach dem Tod seines Vaters – begann Brox,
Kokain zu konsumieren: „Ich stieg wieder aus dem Graben, ich flog hinaus,
ich wurde hochgestimmt und lebenshungrig. Ich war stark, unbesiegbar.
Grenzenlos“, beschreibt er den Reiz, der für ihn von der Droge ausging.
Nach elf Jahren Kokainabhängigkeit erreichte er einen Punkt, an dem er vor
der Entscheidung stand: Leben oder Tod – Entzug oder Selbstmord.
Brox stand den Entzug durch und machte sich als Wandersmann, als „Berber“
auf den Weg. Er wanderte quer durch Deutschland, schlief wahlweise unter
freiem Himmel, in Notunterkünften oder bei Affären und schlug sich mit
Gelegenheitsjobs durch. Zeitgleich befand er sich auf dem Weg einer
Auseinandersetzung mit der eigenen schmerzhaften Vergangenheit.
Die Begegnungen, die Brox während dieser Zeit hatte, erzählen auch viel
über ihn selbst. Über seinen langen Wegbegleiter Ralph schreibt er: „Es
entstand eine Verbundenheit zwischen uns, bei der keiner fürchten musste,
dass er verraten würde, wir blieben uns erhalten, eben weil wir beide ein
Leben lebten, das ohne tiefere soziale Bindungen auskam.“
Brox zeichnet ein differenziertes Bild der Obdachlosen-„Szene“: „In einer
der schlimmsten Massenunterkünfte in Hannover sah ich einen Professor, wie
er sich an sein Reclam-Heft mit Texten von Platon klammerte. Der Tod seiner
Frau und seiner zwei Kinder bei einem Autounfall hatte ihn umgehauen. Warum
er sich trotz Trauerbegleitung, Therapie und seines guten Jobs nicht in der
Bahn halten konnte? Ich weiß es nicht. Wissen die es, die ihm und
seinesgleichen auf der Straße ums Verrecken niemals auch nur einen Cent in
den Becher geworfen hätten?“
## Reisetagebuch im Internet
Für Brox wurde schließlich Berlin die Stadt, die sein weiteres Leben
bestimmen sollte: An einem regnerischen Tag stieß er auf der Suche nach
einem Platz zum Trocknen auf ein Internetcafé – im Jahr 1999 für viele
Menschen noch eine recht neue Erscheinung. Mithilfe der Menschen vor Ort
legte er einen eigenen Blog an und begann in der folgenden Zeit, eine Art
Reisetagebuch zu führen, welches sich später mehr und mehr zu einer
Bewertungsplattform für Obdachlosenunterkünfte entwickelte.
Der Blog wurde zur Website und erlangte immer größere Bekanntheit, Brox
bekam Anfragen verschiedener Medien und trat in Rundfunk- und
Fernsehsendungen auf. Auch der Journalist Günter Wallraff wurde auf Brox
aufmerksam und konnte ihn für die Zusammenarbeit in seinem Filmprojekt
„Unter Null“ über die Obdachlosenszene gewinnen. Während der Arbeit am Fi…
hatte Brox dank Wallraff wieder ein Dach über dem Kopf – ein Wegbereiter
für die folgende Zeit, in der Brox sich immer mehr vom Leben auf der Straße
entfernte.
In der Gegenwart angekommen, schreibt Brox nach nunmehr 30 Jahren auf der
Straße am Ende des Buches: „Nachdem meine Forderungen für Obdachlose
endlich gehört werden, will ich nicht mehr fliehen. Weder auf die Straße
noch sonst wohin. Es wird Zeit für mich zu bleiben.“
14 May 2018
## AUTOREN
Annika Glunz
## TAGS
Kinderheim
Blogger
Obdachlosigkeit
Antifaschismus
Einsamkeit
Wohnungslosigkeit
Kältehilfe
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