| # taz.de -- 30 Jahre Drogenersatztherapie: 15 Milliliter, jeden Tag | |
| > Seit 29 Jahren nimmt Roland Beinhard Methadon. Kaum einer macht das | |
| > länger als er. Vor 30 Jahren begann die Drogenersatztherapie in | |
| > Deutschland. | |
| Bild: Roland Beinhard vor der Krisenhilfe in Bochum. Hier holt er täglich sein… | |
| Bochum taz | Schore, Aitsch, etwas Braunes oder Mat? „Was soll’s?“ Roland | |
| Beinhard benutzt die Wörter nicht mehr, „ich sag, was es ist: Heroin“, sagt | |
| er und es fallen ihm die Augen zu beim Sprechen. Eine Stunde zuvor hat er | |
| seine Dosis Methadon geschluckt, 15 Milliliter in Apfelsaft, „ein ganzer | |
| Haufen“. Langsam setzt die Wirkung ein. Viele Drogenabhängige kriegen | |
| weniger als er, Metin zehn, Alex drei, Doris weiß nicht genau. Bibi kriegt | |
| mehr als Beinhard, „wegen HIV“, sagt sie. Der Computer im | |
| Methadon-Ausgaberaum hat die Menge am Automaten exakt abgefüllt, Beinhard | |
| hat’s getrunken, hat den bitteren Cocktail geschluckt, nicht wegen der | |
| Erlösung, sondern wegen der Kontinuität, und danach das Glas leer wieder | |
| abgestellt. „Schmeckt ekelhaft“, sagt er. | |
| Beinhard bekommt das Zeug in der Krisenhilfe in Bochum, Viktoriastraße 67. | |
| Ein Bermudadreieck sei der Kiez, soll heißen: Unterhaltungsviertel, | |
| Rotlicht, Ort, wo man untergeht. Dazwischen Gotteshäuser. Neben der | |
| Methadon-Ambulanz hat die Krisenhilfe in der Viktoriastraße auch ein Café, | |
| wo sich Süchtige treffen, einen Druckraum, in dem Abhängige in sicherer | |
| Umgebung Drogen inhalieren oder sich spritzen können und die medizinische | |
| Notfallversorgung. | |
| Die Methadonausgabe, zu der Beinhard täglich pilgert, ist im ersten Stock. | |
| In der Küche neben dem Ausgaberaum steht Heinrich Elsner, „der Doc“. Alle | |
| nennen den ärztlichen Leiter so. Theologe, Arzt, Psychiater, | |
| Psychotherapeut ist er. Seelsorger, Seelenklempner. Er kocht Kaffee. Auf | |
| den Sofas in der Ecke sitzen ein halbes Dutzend Männer, manche langhaarig, | |
| manche mit Basecaps, fast alle tätowiert. Hi Soundso, hi Soundso, hi | |
| Soundso. Die, die sich hier treffen, sprechen die Namen bei Begrüßungen | |
| nicht aus; was ihnen über die Lippen kommt, gleicht einem freundlichen | |
| Gemurmel und das, worum ihre Gespräche kreisen, sind Wiederholungen: | |
| Drogen, Fußball, Geld, Frauen, „wo man was bekommt, was man den ganzen Tag | |
| macht, wo man was verkaufen kann“, Beinhards Worte. | |
| Der Sound in der Küche irritiert. Da ist dieses Abgehackte bei den einen, | |
| sie reden, als wären sie schon beim Ausatmen vor dem ersten Wort fertig mit | |
| der Welt, und bei anderen hat die Sprache etwas Schleichendes, als | |
| schleppten sich die Gedanken hinter dem Gesagten her. | |
| Der Doc steht dabei, drahtig, aufmerksam, reicht die Tassen rüber, „wie | |
| geht’s, alles klar?“ Sein Blick scannt die Haut, die Haltung, die | |
| Bewegungen der Substituierten, sein Ohr lauscht auf das Tempo der Worte. | |
| „So bin ich nah dran an den Leuten“, sagt er. | |
| ## Ein Mangel, der ihn aushöhlt | |
| Roland Beinhard, der bleich ist, die Haut im Gesicht wässrig, die | |
| Bartstoppeln grau, geht es so lala, noch klagt er nicht, noch guckt er, auf | |
| was er sich einlässt. Von denen, die sich hier täglich ihr Methadon | |
| abholen, ist er am längsten dabei. 29 Jahre. Länger geht kaum. Denn die | |
| ersten Modellprojekte für Drogenersatztherapie waren nur wenige Monate | |
| zuvor, im März 1988, in Bochum, Essen und Düsseldorf eingerichtet worden. | |
| Es dauerte ein paar Wochen, bis Kunden, Klienten, Patienten – ja was nun? – | |
| bedient, behandelt, versorgt werden konnten. „Ich war der Erste“, sagt | |
| Beinhard. Er, dieser Methadon-Veteran, will zum Jubiläum der | |
| Methadonsubstitution von sich erzählen, von seinem ferngesteuerten Leben, | |
| in dem es vor allem eines gibt, nämlich einen Mangel, der ihn aushöhlt und | |
| leer zurücklässt, sehr leer. | |
| Das hätte er noch nie gemacht, über sich gesprochen „inna Zeitung“, jetzt | |
| sei der Moment, „krieg ich Geld dafür?“ Kriegt er nicht, aber Geld ist für | |
| Beinhard ein wichtiges Thema: Er versteht nicht, dass er nur 200 Euro Hartz | |
| IV bekommt, der Rest werde, meint er, wegen „angeblicher“ Schulden | |
| abgezogen, und spätestens ab dem Fünfzehnten eines Monats muss er „stehlen | |
| oder was?“. Es klingt, als wären die Mitarbeiter von der Krisenhilfe schuld | |
| an seiner Misere, denn die täten nichts dafür, dass er den ganzen | |
| Hartz-IV-Satz kriegt, wie sie ihn auch nicht ins Take-home-Programm nehmen | |
| würden. Er bekommt also kein Methadonrezept für das Wochenende mit. Er muss | |
| jeden Tag in die Viktoriastraße kommen, samstags und sonntags auch. | |
| „Ich hab mir so ’ne Mühe gegeben, aber ich komme nicht auf Take-home. Ich | |
| bin sauer. Da sind welche, die Faxen machen und Take-home kriegen und ich | |
| nicht.“ Was Faxen sind? „Na, dass man das Methadon vertickt.“ Welchen Sto… | |
| die dann stattdessen nehmen? „Heroin oder die holen sich was aus der | |
| Apotheke“, sagt Beinhard. Und der Doc sagt später, dass es da viele | |
| Möglichkeiten gebe und dass „die Leute schon wissen, was hilft.“ | |
| Dass die Leute wissen, was hilft, sagt er. Nicht: was flasht, was kickt, | |
| was turnt, was knallt. Solche Nuancen sind wichtig. Keine | |
| Methadon-Substitution ohne soziale, medizinische und psychische Betreuung, | |
| „täglich ein psychotherapeutischer Kurzkontakt“, fordert er. So ähnlich | |
| steht es sogar im Gesetz. Nur finanziert werde von den Krankenkassen vieles | |
| nicht. | |
| ## Abhängigkeit, dieses Monster | |
| In Deutschland gibt es nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen | |
| Suchtgefahren 100.000 bis 150.000 Heroinabhängige. Etwa 75.000 werden mit | |
| Methadon oder anderen Opioidersatzstoffen behandelt. Das klingt viel, die | |
| Zahl derer jedoch, die abhängig sind von süchtig machenden Schlaf-, | |
| Schmerz- oder Beruhigungstabletten, ist um ein Vielfaches höher – bis zu | |
| drei Millionen könnten es sein, steht im Drogen- und Suchtbericht der | |
| Bundesregierung von 2016. | |
| Der Beschaffungsdruck der Tablettensüchtigen ist anders als bei | |
| Heroinabhängigen, die einen verbotenen Stoff brauchen und sich so | |
| automatisch im kriminellen Milieu bewegen. Roland Beinhard saß viereinhalb | |
| Jahre im Knast. „Ständig klauen“, sagt er, „Einbrüche, Diebstahl, früh… | |
| war das leichter als heute. Von den Eltern hab ich ja kein Geld bekommen.“ | |
| Wer dagegen von Tabletten abhängig ist, muss Geschichten erfinden, muss | |
| Ärzte dazu kriegen, das Medikament zu verschreiben. | |
| Seit Oktober 2017, als die Betäubungsmittel-verschreibungsverordnung – | |
| herrje, was für ein Wort – aktualisiert wurde, darf Methadon auch an Leute, | |
| die von Schmerzmitteln abhängig sind, gegeben werden. Ein nicht | |
| unerheblicher Teil sind ältere Frauen. Sehen würde man diese Sucht in der | |
| Öffentlichkeit nicht, meint der Doc. Er findet die Novellierung gut, | |
| wichtig, überfällig. „Opioide sind sehr gute Medikamente“, sagt er. Auch | |
| Heroin, das, anders als Alkohol, wenn es rein ist, die Organe nicht | |
| schädigt und bis 1958 legal erhältlich war. Wenn nur die Abhängigkeit nicht | |
| wäre. | |
| Abhängigkeit, dieses Monster, sitzt Roland Beinhard seit fast 40 Jahren auf | |
| dem Schoß. Mit 17 hat er mit Heroin angefangen. Sein älterer Bruder sei in | |
| Indien gewesen, „hat Heroin geschmuggelt und versteckt“. Beinhard sah, wo | |
| er es hatte und wie man es macht. „So muss es gewesen sein“, sagt er. Dann | |
| hat er es auch genommen. Und? „War gut gewesen.“ | |
| ## Abstinenz war zu lange das Ideal | |
| Er sitzt jetzt in einem abgewetzten Sessel im Kopierraum der | |
| Methadonambulanz, wo gewöhnlich die Eins-zu-eins-Gespräche stattfinden, und | |
| verschmilzt mehr und mehr mit dem Zimmer, in dem es nichts Farbiges gibt. | |
| Und ja, er erwähnt auch, dass es einen Stiefvater gab. Schläge. Und ja, er | |
| hat im Knast einen Beruf gelernt „Mechatroniker“. Und ja, er hat Hepatitis | |
| C, aber kein HIV. „Auf den Strich? Im Leben nicht.“ | |
| Beinhard, der 1962 geborene Wattenscheider, sagt, er sei 53. Er wiederholt | |
| das ein paar Mal, als sei er vor ein paar Jahren stehen geblieben. Denn | |
| Zeit, genau genommen, ist eine Belastung. Er hat zu viel davon. „Morgens | |
| steh ich auf, trink Kaffee, zieh mich an, trink noch ’n Kaffee, Zigaretten | |
| keine, das bringt mir nichts mehr.“ Dann geht er los in die Viktoriastraße. | |
| Bis halb 11 Uhr wird Methadon ausgegeben. „Und nachmittags, wenn man nach | |
| Hause kommt, Internet anmacht, ist die Außenwelt völlig weg.“ Gehe er doch | |
| mal in den Park, fange er an zu grübeln, „dass ich nichts auf die Reihe | |
| gekriegt habe. Da bleib ich lieber zu Hause.“ | |
| Die Bochumer Krisenhilfe wurde 1975 gegründet. An der Geschichte des | |
| Projekts spiegelt sich, wie Drogensucht wahrgenommen wird. Vorbeugung, | |
| Aufklärung, Entgiftung – das war der Anfang. Beinhard hatte schon früh | |
| Kontakt zum Projekt. Eine ehemalige Mitarbeiterin, die im Nachhinein | |
| findet, auch sie habe früher Abstinenz zu sehr als Ideal gesehen, erinnert | |
| sich an ihn und seine vier Brüder. „Alle auf Drogen. Alle große, sehr | |
| schöne Männer.“ Es schmeichelt Beinhard, als er das hört. Wegen der Brüder | |
| bat der Doc, dass der Name geändert wird. „Tun Sie mir diesen einen | |
| Gefallen.“ Beinhard heißt in Wirklichkeit also anders. | |
| Was mit Beinhards Brüdern jetzt ist? „Sind runter“, sagt er. Nur er nicht. | |
| An ihm klebt der Stoff. Er klebt an ihm in echt und als Phantasma. Einmal | |
| im Gespräch meint er, hätte er Geld, würde er sich Heroin besorgen. Ein | |
| paar Tage später sagt er, Heroin würde ihm nichts mehr bringen, würde | |
| nichts mehr mit seinem Körper machen, er müsste so viel nehmen, dass es | |
| tödlich wäre. Seit zehn Jahren sei er nur noch auf Methadon. Blöd sei, dass | |
| es ihn „müde macht und down“. Die Lust auf Frauen sei auch weg. In dem | |
| Augenblick dringt die Sirene einer Feuerwehr bis in das kleine Zimmer. Ein | |
| Feuer wird gelöscht. | |
| ## „Heroin hat auch eine seelische Wirkung“ | |
| Methadon ist ein synthetisches Opiat, ursprünglich 1937 bei den Farbwerken | |
| Höchst entwickelt. „Ein sehr wichtiges und gutes Medikament, weil es den | |
| Opiathunger unterdrückt“, betont der Doc. Seit 2005 steht es auf der Liste | |
| der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation WHO. Aber: | |
| Auch Methadon macht abhängig. | |
| Wenn Elsner die Wirkungen von Methadon gegen die von Heroin aufführt, wird | |
| seine Stimme schneller, angespannter. Denn beim Umgang mit Drogensucht | |
| sieht er noch immer die Bestrafungsmentalität am Werk, die so lange | |
| verhindert hat und weiter verhindert, dass Abhängige das Mittel bekommen, | |
| das sie brauchen. Denn unberücksichtigt bleibe, dass „Heroin eine seelische | |
| Wirkung hat“, er liebt das Wort „seelisch“. | |
| Heroin löst Glücksgefühle aus, die normalerweise durch die körpereigenen | |
| Endorphine hervorgerufen werden. Höher und länger dosiert kann es auch bei | |
| vielen schwerwiegenden psychischen und psychosomatischen Beschwerden sehr | |
| gut helfen, „bei Schizophrenie, bei Depression“ zählt Elsner auf, „weil … | |
| offenbar, aber das ist jetzt nicht wissenschaftlich formuliert, die | |
| Gedanken ordnet“. Das könne Methadon in hoher Dosierung zwar auch, aber es | |
| macht nicht high – die Wirkung hält allerdings länger an, man muss es nur | |
| einmal am Tag nehmen. Die, die es nehmen, können ihren Alltag meistern, | |
| einer Arbeit nachgehen, erklärt er. Von den 90 Abhängigen, die derzeit bei | |
| der Krisenhilfe Methadon bekommen, gelingt das etwa zehn. „Man kann | |
| ziemlich nüchtern mit Methadon leben, es unterdrückt den Suchtdruck.“ | |
| Suchtdruck ist diese Fernsteuerung im Kopf der Drogenabhängigen, wenn alles | |
| nur noch darum kreist, wo sie die nächste Dosis her bekommen, wenn sie | |
| dafür klauen gehen, nichts mehr essen, sich prostituieren, Krankheiten | |
| verschleppen. Elsner, der Doc, geht davon aus, dass drei Viertel der 250 | |
| Leute, die jeden Tag in die Viktoriastraße 67 kommen, psychisch krank sind. | |
| Er findet, dass das nicht okay ist, dass Menschen, die wegen seelischer | |
| Probleme Heroin nehmen, in die Illegalität und Kriminalität getrieben | |
| werden, und dass man ihnen das, was ihnen eigentlich hilft, vorenthält. Der | |
| quirlige Doc will, dass nachgedacht wird. | |
| ## Ausschlaggebend war die HIV-Epidemie | |
| Entzug und Abstinenz waren die Credos vor 1988. Dabei liegen die | |
| Rückfallquoten bei Heroinabhängigen nach Drogenentzügen um 90 Prozent, sagt | |
| der Doc. Und selbst wer die Übelkeit, die Schmerzen, das Zittern, die | |
| Schweißausbrüche, das Frieren, den Durchfall, den Zusammenbruch des | |
| Kreislaufs, die Auflösung des Selbst durchstand, hatte die Ursachen für | |
| sein Verlangen nach Heroin nicht behoben. Was ist so toll an Heroin? „Ich | |
| spritze Glück, Seelenfrieden, Seelenruhe“, sagt Roland Beinhard, „natürli… | |
| hält’s nicht lange.“ Der Mensch gewöhnt sich daran, die Dosis muss erhöht | |
| werden, der Druck nimmt zu. | |
| Schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der amerikanische | |
| Pharmakologe Vincent Dole und die Psychiaterin Marie Nyswander Süchtige von | |
| Heroin auf Methadon umgestellt und nachgewiesen, dass dies die Abhängigen | |
| aus dem kriminellen Kreislauf herausführte. Zwanzig Jahre später waren es | |
| bereits 85.000 US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen, die mit Methadon | |
| substituiert wurden. Viele darunter Vietnamveteranen. | |
| In Westeuropa war die Vergabe von Methadon im Jahr 1988 nur noch in | |
| Deutschland und in Norwegen verboten. Hardliner wie der damalige | |
| Drogenbeauftragte der Bundesrepublik, Manfred Franke, der öffentlich | |
| kundtat, solange er etwas zu sagen habe, gebe es keine Substitution, trafen | |
| auf Ärzte, die illegal mit opioidhaltigen Mitteln substituierten, sowie | |
| Politiker wie den damaligen Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, | |
| Hermann Heinemann, der sich die Substitutionspraxis in anderen Ländern | |
| anschaute und am Ende die Modellversuche in Bochum, Essen und Düsseldorf | |
| durchboxte. | |
| Ausschlaggebend war da schon gar nicht mehr die Einsicht, dass der | |
| kriminelle Kreislauf von Drogenabhängigen durchbrochen werden muss, sondern | |
| die HIV-Epidemie. Anhand von Blutuntersuchungen inhaftierter Fixer wird der | |
| HIV-Virus 1982 zum ersten Mal bei Drogenabhängigen in Deutschland | |
| nachgewiesen. Drei Jahre später hatten bei einer Untersuchung im Berliner | |
| Tropenmedizinischen Institut von 80 drogenabhängigen Männern und Frauen | |
| bereits zwei Drittel den Antivirus im Blut. Übertragungswege waren: | |
| gemeinsam genutzte Spritzen und Geschlechtsverkehr. Geschätzt wird, dass | |
| mindestens drei Viertel der weiblichen Süchtigen mit Prostitution zumindest | |
| zeitweise Geld beschaffen. | |
| Ist es falsch zu behaupten, nicht die Sorge um die Drogenabhängigen, | |
| sondern die Sorge um die Männer, die Prostitution in Anspruch nehmen, hätte | |
| letztlich dazu geführt, dass die Methadon-Substitution sich durchsetzte? | |
| „Das ist nicht falsch“, sagt der Doc. | |
| ## Neue Probleme, neue Lösungen | |
| Wer damals ins Methadon-Programm wollte, musste mehrere Jahre Heroin | |
| gespritzt und zwei dokumentierte Entzüge hinter sich haben. Bei | |
| HIV-Positiven oder Schwangeren waren die Hürden nicht so hoch. | |
| Heute ist der Zugang zum Programm leichter. Aber nicht nur die politisch | |
| Verantwortlichen, auch die Leute, die mit Drogenabhängigen arbeiten, haben | |
| dazugelernt. „Wir sind mit unseren Klienten alt geworden“, sagt Silvia | |
| Wilske, die pädagogische Leiterin der Krisenhilfe. Anfänglich etwa war die | |
| Methadonabgabe räumlich von der vorgeschriebenen psychosozialen Betreuung | |
| getrennt. „Die haben im Krankenhaus das Methadon bekommen, aber bei uns | |
| sind sie nicht angekommen.“ Deshalb ist jetzt alles unter einem Dach. | |
| Der Umgang mit HIV, der Umgang mit drogenabhängigen Aussiedlern, neuerdings | |
| die Unterstützung von drogenabhängigen Flüchtlingen – für alles müssen s… | |
| immer wieder neue Lösungen finden. Dass Drogenabhängige oft keine | |
| Krankenversicherung haben, dass sie obdachlos sind. „Auch dass mit Methadon | |
| substituierte Frauen wieder ihre Menstruation bekommen, die mit Heroin | |
| meist ausbleibt, war plötzlich ein Problem“, erklärt Wilske, die selbst | |
| drei Kinder hat. Begleitung von Schwangeren musste organisiert werden. | |
| Methadon und reines Heroin schädigen die Embryos nicht organisch, wie etwa | |
| Alkohol und Nikotin, aber die Babys müssen nach der Geburt erst einmal | |
| einen Entzug machen. „Jetzt stehen wieder neue Probleme an: die alt | |
| gewordenen Junkies“, sagt Wilske, die fast so lange in der Krisenhilfe | |
| arbeitet, wie es sie gibt. Viele Drogenabhängige seien noch nicht sechzig | |
| und doch so hinfällig, dass sie in Altenpflegeheimen untergebracht werden. | |
| „Da passt nichts zusammen.“ | |
| Auch die Drogenszene wird nun ausdifferenzierter gesehen. Es gebe | |
| Szenemeider, Szenegänger, Szenebewohner, sagt Elsner, der Doc. Eine | |
| Szenemeiderin ist die Mutter, die nachmittags, wenn das Café, der Druckraum | |
| und die Methadonambulanz zu sind, mit ihrer elfjährigen Tochter vorbeikommt | |
| und dieser, noch im Treppenhaus stehend, die Tür zum Zimmer zeigt, in dem | |
| sie jeden Morgen das Methadon bekommt. Jemand fragt, wer sie sei. Leise | |
| antwortet sie, dass sie die Erlaubnis habe, ihrer Tochter zu zeigen, wo ihr | |
| geholfen werde. Seit Jahren sind etwa ein Viertel der Substituierten | |
| Frauen. Die Zahl aller Substituierten mit Migrationshintergrund hingegen | |
| steigt. 2016 waren es etwa 40 Prozent. | |
| ## Bibi, Kuba und die Schneekönigin | |
| Im Café in der Viktoriastraße 67 im Erdgeschoss treffen sich die | |
| Szenegänger und -bewohner. Manche, die auf Methadon sind, nehmen noch etwas | |
| dazu: Drogen, Tabletten, Kokain, Alkohol. Alex ist da, Aussiedler aus | |
| Kasachstan. Jedem, der zuhört, sagt er, dass er Angst hat vor einem neuen | |
| Kalten Krieg. An einem Tisch stehen Metin, halb deutscher, halb türkischer | |
| Herkunft, und Bibi, deren Vater Grieche ist. Sie zeigt das Tattoo an ihrer | |
| Hand: ein verschwommenes mehrblättriges Hanfblatt, „das Szenezeichen“, | |
| erklärt sie. | |
| Beide wollen über ihre zerrupften Leben sprechen, es schmerzt sie, dass es | |
| hier dann auf Stichworte schrumpft. Metin ist irgendwie an seiner | |
| Bikulturalität zerbrochen. Und seine deutsche Mutter, die ihm oft Geld | |
| gegeben habe für Drogen, sei seit sechs Jahren tot. Bibi wiederum sei den | |
| Weg ihres Vaters gegangen. Der kam aus dem Alkohol- und Zuhältermilieu. Sie | |
| hat zwei Kinder, beim ersten hätte sie gemerkt, dass sie schwanger war, und | |
| habe sich „runterdosiert“. Beim zweiten nicht. „Das war nicht gut.“ Bei… | |
| Kinder leben in Pflegefamilien. Susanne wiederum spricht nicht über ihr | |
| Leben, zeigt aber die Abszessnarben an ihren Beinen, die sie vom | |
| Heroinspritzen hat. | |
| Auch vor dem Café stehen Leute. Kuba, der Dealer, nicht abhängig sei er, | |
| und Milli, „die Schneekönigin“, seine Freundin, „seit 32 Jahren bin ich | |
| drauf“, sagt sie. Morgens wirkt die 51-Jährige fesch und klar und posiert | |
| für den Fotografen. Nachmittags, wenn die Krisenhilfe geschlossen ist und | |
| sie noch immer davor steht, sieht sie fahler aus, älter, geschrumpft. Das | |
| käme vom Alkohol. Sie holt eine Flasche Wodka aus ihrer Tasche, trinkt, | |
| steckt sie wieder ein und erzählt von ihrem Sohn, der bei einem | |
| Schwulenpaar aufwächst. „Alle haben mich gefragt, wie ich ihn bei Schwulen | |
| lassen könne.“ | |
| Das Café ist ein Anlaufpunkt für alle, die Suchtprobleme haben. Wasser | |
| kostet 20 Cent, Bier darf mitgebracht werden. Warmes Essen gibt es auch. In | |
| einer Ecke hängt die Liste der verstorbenen Szenebewohner. Beinhard zeigt | |
| sie. Jedes Jahr im Sommer gibt es eine Feier für die Toten, sagt er und | |
| beantwortet auch noch leise diese Fragen: | |
| Worüber können Sie sich freuen? | |
| Worüber ich mich freuen soll? Ich freue mich, wenn ich mein Geld bekomme, | |
| aber nicht lange, weil es so wenig ist. | |
| Was macht Sie traurig? | |
| Dass die Jahre nichts gebracht haben. Nichts ist passiert. Ich war in so | |
| einer Blase. Da war so viel gewesen, was nicht war. | |
| Ob das Leben ihn verlor? | |
| Es hat mich nie gehabt. | |
| 4 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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