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# taz.de -- Newroz in der Türkei: „Warum wurde Kemal getötet?“
> Newrozfest 2017 in Diyarbakir. Ein junger Musikstudent wird in der Menge
> erschossen. Seine Familie hofft auf einen fairen Prozess.
Bild: Traurig und wütend: Kemal Kurkuts Mutter
Secan Kurkut verlor erst ihren Sohn durch eine Polizeikugel, dann auch noch
das Grundstück, auf dem sie geboren wurde. Am 21. März 2017 wurde Kemal
Kurkut beim Newroz-Fest in Diyarbakir erschossen. Seine Mutter hielt es
nicht mehr aus, das Zimmer ihres toten Sohns zu sehen. Sie verließ mit
ihrer Familie das Haus in Malatya im Osten der Türkei und zog nach Mugla,
eine Küstenstadt im Südwesten. Auch das konnte den Schmerz über den Tod
ihres Sohns nicht lindern.
Der 23-jährige Kemal war das jüngste von Secan Kurkuts vier Kindern. Sein
Vater starb früh an Krebs, Kemal war da noch in der Grundschule. Um ihre
vier Kinder zu ernähren, arbeitete Secan Kurkut in einer Aprikosenfabrik.
Gegen Kemals ältesten Bruder Ercan wurde ein Prozess eröffnet, und er ging
ins Ausland. Sein zweiter Bruder Ferhat war Lehrer, per Notstandsdekret
wurde er suspendiert. Nach all diesen Widrigkeiten erhielt Kemal einen
Studienplatz für Musik an der Fakultät der Schönen Künste der Inönü
Universität in Malatya. Er lernte Geige, Saz und Gitarre zu spielen und
komponierte.
Im Jahr 2017 wollte Kemal das erste Mal am Newroz-Fest teilnehmen. Seine
Familie dachte, er lerne in seinem Zimmer. Er brach unterdessen nach
Diyarbakir auf. Am Eingang zum Gelände der Newroz-Feier wurde er von einem
Polizisten erschossen. Die Kugel traf Kemal am Rücken in der Nähe des
Herzens. Zuvor hatten offizielle Stellen verbreitet, dass er ein
Selbstmordattentäter sei. Der Fotojournalist Abdurrahman Gök drückte acht
mal auf den Auslöser und so trat zutage, was wirklich geschehen war. Weder
am freien Oberkörper von Kemal Kurkut, noch in seiner Tasche, die später
durchsucht wurde, wurde eine Bombe gefunden.
## „Was hat Kemal getan?“
Die Familie Kurkut wohnt weit außerhalb des Stadtzentrums in einem ruhigen
Stadtteil mit leeren Straßen in einem zweigeschossigen Betonhaus. Secan
Kurkut grüßt mit den Worten: “Danke, dass Sie Kemal nicht vergessen haben.�…
Mit Tränen in den Augen erzählt sie von ihrem jüngsten Sohn. „Kemal war ein
sehr ruhiges und höfliches Kind. Er ging in die Schule und kam anschließend
gleich nach Hause. Manchmal hat er uns ein Lied vorgesungen. Noch nicht
einmal geflucht hat er.“
Sie stellt die Frage, die sich selbst ein Jahr lang gestellt hat. “Was hat
Kemal getan? Warum haben sie ihn erschossen?“ Nach einer kurzen Pause fährt
sie fort. “Wenn sie ihm nur die Arme oder die Beine gebrochen hätten. Wenn
sie nur keine Kugel auf ihn gerichtet hätten. Er hätte das erste Mal in
seinem Leben das Newroz-Fest erlebt. In ihrer Grausamkeit haben sie ihn
nicht gehen lassen.“ Secan Kurkut kann sich die Fotos von dem Moment, in
dem Kemal erschossen wurde, immer noch nicht ansehen.
Kemals Beerdigung erlebte die Familie Kurkut unter unzähligen
Verdächtigungen. Jahrelange Nachbarn kamen nicht zur Beerdigung. Man
munkelte, Kemal habe geplant, einen Anschlag zu verüben. Erst als die Fotos
vom Augenblick seines Todes an die Öffentlichkeit kamen, besuchten sie die
Kurkuts. Kemal sollte neben seinem Vater begraben werden, doch auf einmal
hieß es, der Friedhof sei denkmalgeschützt. Sie bekamen keine Erlaubnis und
wurde an einem anderen Ort bestattet.
## Wird der Tatverdächtige vom Staat geschützt?
Kemals Bruder Cihan Kurkut erzählt mit müder Stimme, dass auch sie
irgendwann begonnen hätten zu zweifeln – ob sie wollten oder nicht. War er
nicht doch ein Selbstmordattentäter? “Aber dann haben wir die Bilder
gesehen. Das tut weh. Mein Bruder wurde getötet.“ Das Einzige, was die
Familie will, ist Gerechtigkeit.
Gegen den Polizisten, der Kemal Kurkut erschossen hat, wurde unter dem
Vorwurf, einen Menschen vorsätzlich getötet zu haben, der Prozess eröffnet.
Noch vor dem Ende der Verhandlungen kehrte der tatverdächtige Polizist an
seinen Arbeitsplatz zurück, nach drei Suspendierung. Zwar forderte der
Staatsanwaltschaft die Festnahme des Tatverdächtigen, doch der Richter
beschloss, dass er während der Verhandlungen auf freiem Fuß bleiben könne.
Die nächste Verhandlung findet am 26. April statt.
Familie Kurkut denkt, dass der Tatverdächtige währenddessen vom Staat
geschützt wird. “In der Verhandlung hatte es den Anschein, wir seien die
Angeklagten. Wir wurden mit den Eintritt ins Gerichtsgebäude zwei Mal
durchsucht. Dabei waren die mit dem Tatverdächtigen befreundeten Polizisten
mit ihren Waffen im Gerichtssaal“, erzählt Kemal Kurkuts Bruder Cihan und
fährt fort: “Inzwischen vertraue ich dem Staat nicht mehr. Ist das ein
Rechtssystem?“ Secan Kurkut geht nicht mehr zu den Verhandlungen, nachdem
sie am ersten Prozesstag zusammengebrochen ist. “Ich kann die Stimme des
Polizisten nicht mehr ertragen“, sagt sie.
## Schikaniert und weggeschickt
Die Aufnahmen der Überwachungskameras hat das Gericht, die Familie konnte
sie noch nicht einsehen. Noch weiß niemand genau, warum Kemal Kurkut mit
nacktem Oberkörper zum Newruz-Gelände kam und was davor passiert ist. Die
Anwältin der Familie, Reyhan Yalçındağ hat einen Teil der Aufnahmen
gesehen. “Soweit ich das nachvollziehen konnte, wird er von der Polizei am
Durchsuchungspunkt schikaniert und weggeschickt. Dann kehrt er zurück,
zieht sein Hemd aus, und entwendet bei einem Metzger am Platz ein Messer.
Noch sieht es so aus, dass er nicht die Polizisten verletzen wollte,
sondern sich selbst“, erklärt die Juristin.
Kemal Kurkut hätte psychische Probleme gehabt, schrieben einige Medien nach
seinem Tod. Die Familie streitet das entschieden ab. Sie erzählen von dem
Bombenanschlag am 10. Oktober 2015 in Ankara, dem tödlichsten Attentat in
der jüngeren türkischen Geschichte mit 110 Toten und mehr als 500
Verletzten. Kemal Kurkut war vor Ort, als die Bomben explodierten. Wieder
zu Hause, sagte er der Familie zufolge nur: “Überall war Blut. Sie haben
Menschen getötet.“ Nach diesem Tag zog er sich mehr und mehr zurück. Seine
Mutter wunderte sich nicht. “Kemal hat dieser Anschlag tief getroffen. So
wie es jeden Menschen treffen würde, der ein Gewissen hat.“
20 Mar 2018
## AUTOREN
Çınar Özer
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