| # taz.de -- Kolumne Psycho: Berliner Blasenschwäche | |
| > Ein Burn-out ist in, Depressionen sind normal und Angststörungen längst | |
| > kein Tabu mehr? Kommt darauf an, wo man wohnt. | |
| Bild: Besser gleich begraben lassen als seinen Psychoknacks zu outen: Leben auf… | |
| Was am Thema Angststörungen denn tabu sei, fragte neulich jemand in den | |
| Kommentaren auf Facebook unter dem Posting meines Verlags, in dem mein Buch | |
| angekündigt wurde. Schließlich seien die Medien seit Jahren voll davon und | |
| jeder rede darüber. In welcher geilen Welt lebt dieser Mensch?, dachte ich | |
| und klickte neidisch auf sein Profil, nur um herauszufinden, dass er – wie | |
| so viele – an einer chronischen Blasenschwäche leidet. | |
| In diesem Fall war es die | |
| Ich-wohne-in-Berlin-bin-total-aufgeschlossen-und-habe-Freunde-die-was-mit-M | |
| edien-machen-oder-Künstler-sind-Blase. Leider ist diese Blasenschwäche | |
| (lat.: Incontinentia Filter-Bubble Berlinae) noch viel weiter verbreitet | |
| als Angststörungen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Betroffenen | |
| derartig schrumpfen, dass sie nicht mal mehr im Stehen über ihren | |
| Tellerrand schauen können. Einerseits ist das natürlich sehr gemütlich und | |
| kuschelig, dutzi-dutzi-dutzi, andererseits haben sie aber eben auch ständig | |
| die Tischplatte vor dem Kopf, was das Sehvermögen doch erheblich | |
| beeinträchtigt. | |
| Um es mit anderen Worten zu sagen: In Berlin mag es ein Problem sein, wenn | |
| man zu normal ist („Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin“), und | |
| das ist definitiv einer der Gründe, warum ich gerne hier lebe, aber Berlin | |
| ist eben auch nicht das Maß aller Dinge. | |
| Ich weiß nicht, ob ich mich jemals geoutet hätte, wenn ich in der | |
| Kleinstadt geblieben wäre, in der ich aufgewachsen bin. Wenn ich in einem | |
| Beruf arbeiten würde, in dem ich Konsequenzen wie Stigmatisierung oder | |
| sogar eine Kündigung befürchten müsste. Oder wenn meine Freundschaften | |
| oberflächlicher wären. Vermutlich hätte ich einfach geschwiegen, vielleicht | |
| für immer. | |
| Und obwohl es in einer offenen, toleranten Großstadt eigentlich keine große | |
| Sache sein sollte, sich zu einer psychischen Krankheit zu bekennen, war es | |
| für mich trotzdem jahrelang keine Option. Wie schwer muss es erst für | |
| jemanden sein, der in einem weniger luxuriösen Umfeld lebt? Wo etwa der | |
| Nachbar der einzigen Therapeutin im Dorf den ganzen Tag hinter dem Vorhang | |
| steht und notiert, wer ein und aus geht, um es am Samstag auf dem | |
| Wochenmarkt brühwarm weiterzuerzählen? Stigmatisierung heißt eben nicht | |
| unbedingt, dass man mit Mistgabeln durchs Dorf gejagt wird. | |
| Vor ein paar Wochen hatte ich eine Lesung in Lörrach, einer Kleinstadt im | |
| Süden Baden-Württembergs. Von den knapp 50.000 Einwohnern kamen 16, | |
| inklusive meines Vater und des Buchhändlers. War trotzdem sehr schön. Nicht | |
| so schön war, was mir später ein Teilnehmer erzählte: Einige Betroffene | |
| wären zwar gern gekommen, hätten aber befürchtet, dass andere Besucher | |
| folgerichtig daraus schließen, dass sie auch eine Angststörung haben. | |
| Solange es Leute gibt, die sich dafür schämen, eine Lesung zu besuchen, und | |
| Leute, die sie stigmatisieren, wenn sie es doch tun, ist eine Angststörung | |
| eben immer noch das: ein Tabu. | |
| 10 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Seyboldt | |
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