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# taz.de -- Grenzdorf im Ukraine-Konflikt: Von Krieg und Frieden
> Tschermalyk ist ein Dorf an der Front. Die Bewohner bleiben trotz
> Schlafmangels. Wegen eines Pakts.
Bild: Auf den Frieden! Auf die Liebe! Das Ehepaar Nicolaiwitsch lädt zum Feier…
Tschermalyk taz | Wenn es dunkel wird, kommt der Krieg nach Tschermalyk.
Gerade ist aber noch Tag, und Anna Nikolajewna eilt im dicken Mantel durch
die Schule, um den Besuch zu begrüßen. Die weißen, gepanzerten Geländewagen
des UNHCR, der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen, sind gekommen, um
an diesem Samstag im Februar an die wenigen Kinder, die noch geblieben
sind, Winterjacken zu verteilen.
Anna Nikolajewna ist Dorfratsvorsitzende und Tschermalyk ein Ort, der am
Fluss Kalmius liegt, in der Ukraine. Früher war auf der anderen Seite des
Ufers auch noch Ukraine, aber jetzt liegt dort die Volksrepublik Donezk,
ausgerufen durch prorussische Separatisten im April 2014. Anna Nikolajewna,
die Schule, das gesamte Dorf stehen direkt an der Front.
Tschermalyk friert heute versteckt in einem Nebelteppich. Im stickigen
Versammlungssaal der Schule haben Kinder und ihre Eltern lange auf den
Besuch gewartet, dann geht alles ganz schnell. Die Mitarbeiter des UNHCR in
ihren blauen Westen tragen große Pappkartons auf die Bühne und verteilen
Jacken. Rosa für die Mädchen, Blau für die Jungs und Grau für diejenigen,
die kein Rosa oder Blau bekommen haben.
Dann singen alle zum Dank ein Lied und die Flüchtlingshelfer reisen wieder
ab. Spätestens 16 Uhr haben sie diese Gegend zu verlassen – so schreibt es
ihr Sicherheitsprotokoll vor. Denn dann wird es dunkel. Und Dunkelheit
heißt Krieg, seit fast vier Jahren.
Da helfen auch keine Papiere wie die Minsker Abkommen. In denen haben die
ukrainische Regierung und die bis heute offiziell nicht anerkannten
Volksrepubliken Donezk und Lugansk einen Waffenstillstand vereinbart. Minsk
II wurde im Februar 2015 unterschrieben – trotz des vermeintlichen Friedens
bezeichnet die ukrainische Regierung die Region um Tschermalyk weiterhin
als Zone Antiterroristischer Operationen, kurz ATO.
Es ist eine militärische Sperrzone, die offiziell nur Einheimischen und
denen mit Sondergenehmigung, Journalisten und Hilfsorganisationen
beispielsweise, zugänglich ist. Alleine im Jahr 2017 meldete die OSZE über
400.000 Verstöße gegen den Waffenstillstand. Das heißt, 400.000 Mal wurde
geschossen. Mindestens. Gleichzeitig ist die ATO das Zuhause Tausender
Menschen. Sie versuchen, in de facto Kriegszuständen, Alltag zu leben.
Es ist noch hell, also spaziert Anna Nikolajewna durch ihre Heimat. Die
gebürtige Tschermalykerin war schon vor dem Krieg Vorsitzende des Dorfrats
– im Wesentlichen hat sie damals Feste organisiert, Streits geschlichtet.
Der Krieg hat ihrem Job eine völlige neue Bedeutung gegeben. Was sie macht?
„Ernste, harte Arbeit“, sagt sie, „und zu viele Beerdigungen.“
Tschermalyk ist aufgerissen und leer: die Straßen, die Häuser, die
Atmosphäre. Streunende Hunde verfolgen die Soldaten, die sich in Häuser
einquartiert haben, deren Bewohner längst geflohen sind. Rentner stehen an,
um ihre Pension abzuholen, die die Post gebracht hat. Das war schon mal
anders, vor drei Jahren kam viele Monate lang gar kein Geld für sie. Durch
Tschermalyk zu gehen, ist, als verlaufe man sich am Ende der Welt.
Anna Nikolajewna biegt zum Festsaal ein. Drinnen kriecht der Geruch von
Fett aus der Küche und über die Wände, die dem berüchtigten Ostblock-Chic
alle Ehre machen: grüne Tapete und Plastikgardinen. Der Saal ist heute
geteilt. In einem Raum: Geburtstag einer 59-Jährigen. Im anderen: die
Beerdigung einer 82-Jährigen. Das Tischdekor hier wie dort: Plastikbecher,
Schnapsglas, Karaffe, Limonade. Nur, dass die Geburtstagsgesellschaft
schreit und tanzt, die Beerdigungspartei vor der Tür steht und raucht.
Dann kracht die wuchtige Maria Wladimirowna aus der Geburtstagsmeute. „Ihr
da! Stehenbleiben!“ Sie möchte anstoßen. Ihre Tante hat Geburtstag, und
darauf zu trinken ist eine Frage des Anstands.
Maria Wladimirowna ist 23 Jahre alt und längst, wie die meisten jungen
Leute, aus Tschermalyk fortgezogen. Sie studiert jetzt Medizin in Berdjansk
und kommt nur zu besonderen Anlässen zurück. „Die Jugend hier war sehr
stark. Wir sind jedes Wochenende zusammen zum Feiern nach Mariupol
gefahren“, sagt sie. „Hier gab es Partys, mein Gott, das hättet ihr sehen
müssen!“
Mit den Griechen Konstantinopel erobern
Heute durchqueren die militärische Sperrzone nachts nur Menschen, die es
müssen. Militärkontrollen und aktive Gefechte verderben die Feierlaune.
Alle paar Kilometer halten Checkpoints auf. Etwa jeder dritte Einwohner ist
inzwischen geflohen, darunter gute 80 Prozent aller unter 30-Jährigen.
Tschermalyk ist heute ein Dorf der Alten und Zurückgebliebenen.
Warum sind nicht längst alle weg?
„Wir sind ein ganz besonderes Dorf“, sagt Dorfrätin Anna Nikolajewna, „w…
sind alle Griechen.“ Dann muss sie erst mal eine Hustenattacke überwinden.
Ihr Körper bebt.
In der Ukraine leben etwa 90.000 ethnische Griechen, die meisten in der
Gegend um Mariupol – einer Großstadt, 40 km von Tschermalyk entfernt. Oft
wohnten die Griechen in kleinen Dörfern, „im Prinzip wie große Familien“,
sagt Nikolajewna. „Es gibt auch Ukrainer – aber sie können unserem
griechischen Couleur nicht entfliehen“, sagt Nikolajewna. Da muss sie
lachen.
Die ersten Griechen kamen schon im sechsten Jahrhundert in die Region.
Später, im 18. Jahrhundert, lockte die russische Zarin Katharina die Große
Griechen gezielt in die Region, versprach ihnen Land, Selbstbestimmung und
die Freistellung vom Militärdienst. Das war Teil ihres Planes, mit dem sie
das Osmanische Reich zerschlagen und Konstantinopel erobern wollte. Eine
zweite Einwanderungswelle folgte in den 1940er Jahren, als viele überzeugte
Kommunisten aus Griechenland in die Sowjetunion flüchteten.
„Hellas“, grüßen sie hier, in der Ukraine
Jedes der Dörfer feiert den Jahrestag seiner Gründung, und das griechisch.
In Tschermalyk ist das der zweiten Sonntag im August. Dann streichen die
Bewohner zusammen ihre Häuser blauweiß an, singen Volkslieder, tanzen,
führen Theaterstücke auf. In Tschermalyk haben sie eine eigene Tradition:
Boxkämpfe. „Es ist brutal, aber sehr amüsant“, sagt Nikolajewna.
Und es gibt noch eine Besonderheit: In Tschermalyk sprechen sie Rumeika,
einen griechischen Dialekt, den man nur noch in dieser Gegend findet. Krieg
bedroht mehr als nur Gebäude.
In einer schlammigen Seitenstraße besucht Anna Nikolajewna den alten
Dimitri Fedorowitsch – er wartet am verrosteten Zaun seines Vorgartens.
„Hellas!“, grüßt er, bittet herein.
Drinnen riecht es, wie das ganze Dorf zu dieser Jahreszeit, nach
Holzbriketts. Fedorowitsch und seine Frau sind arm. In einer Ecke liegen
verstaubte Säcke alter Hilfsgüterlieferungen. Überall stehen Gläser, darin
eingelegter Kürbis, Gurken, Tomaten, Sauerkraut. Das Ehepaar ernährt sich
fast ausschließlich von dem, was sie auf ihrem Grundstück anpflanzen, und
von Spenden.
Dimitri Fedorowitsch beginnt, von seinen Vorfahren zu erzählen, Griechen,
die unter Katharina der Großen in die Ukraine kamen. Vom Verhältnis zur
ukrainischen Bevölkerung, der offenen Ablehnung und endlich auch der
Normalisierung. Von seiner Tochter, die 2007 in einer Sommernacht schlafen
ging und nie wieder aufwachte.
Dann erzählt Dimitri Fedorowitsch vom Krieg. Der ist nicht Vergangenheit.
Der ist kein Einzelschicksal. Er sagt: „Wir Griechen sind eine sehr
eingeschworene Gemeinschaft.“ Und: „Wir erleben den Krieg immer gemeinsam.
Er ist eine fortwährende, kollektive Erfahrung, und dieser Krieg ist nicht
vorbei.“
Es ist der 6. August 2015, als der Krieg das Dorf erschüttert. Das
ukrainische Militär hatte ein Munitionslager am Eingang des Dorfes
eingerichtet, es explodiert. Mörsergranaten der prorussischen Separatisten
schlagen in die Lagerhalle ein, entzünden ein Feuer, das zwei Tage und
Nächte lang brennt. Schrapnelle schossen durch das Dorf. Im einzigen
landwirtschaftlichen Betrieb, er befand sich direkt neben dem
Munitionslager, verenden an die tausend Schweine. Häuser zerbersten, fünf
Menschen sterben. Sechs kommen schwer verletzt davon.
Auch das Haus von Dimitri Fedorowitsch wird von einer Mörsergranate
getroffen. Das Ehepaar hatte da im Bett gelegen und geschlafen. Wenn
Fedorowitsch von der Nacht spricht, muss er noch heute weinen.
Es dämmert. Anna Nikolajewna folgt einem schlammigen Pfad, hinunter zu
Nicolai Nicolaiwitsch. Er ist Vorstandsmitglied im griechischen Verein und
an diesem Abend schmeißt er eine kleine Feier bei sich zu Hause. „Komm
schnell rein, es wird langsam dunkel“, begrüßt Nicolaiwitsch, der auch
Musiker ist und gerne und stolz seine Akkordeonsammlung präsentiert. Wer zu
ihm kommt, bringt eine Flasche selbst gebrannten Schnaps mit, die kaum noch
Platz auf dem gedeckten Holztisch findet, so vollgestellt ist er mit
Speisen. „Auf den Frieden und die Liebe!“, brüllt die Runde und stößt an.
Im Haus von Nicolaiwitsch hängen griechische Flaggen und Kühlschrankmagnete
mit Palmenmotiven aus Thessaloniki. Nostalgische Erinnerung? „Auf jeden
Fall!“, meint Nicolaiwitsch, „ich war zwei Mal dort, war eine super Zeit!“
Warum er dann nicht auswandert? „Irgendwie bin ich auch Ukrainer. Und ihr
wisst nicht, was es heißt, in dieser Gemeinschaft zu leben.“ Was er damit
meint? „Wir haben während des Krieges gemeinsam beschlossen zu bleiben“,
mischt sich nun ein Mann ein, der neben Nicolaiwitsch sitzt, „wir haben
entschieden, dass wir hier miteinander stärker sind als woanders.“ Es ist
ein Pakt, der das Leben hier zusammenhält.
Klebestreifen am Fenster soll den Krieg draußen halten
Draußen ist die Sonne gerade verschwunden, als alle ein weiteres Mal die
Gläser heben. Und dann, fast zeitgleich, dringt von draußen ein
unüberhörbares Donnern durch die geschlossenen Fenster. Die Männer und
Frauen schauen sich an, kurz nur, und wenden sich dem Essen zu. Es hört
nicht auf, alle paar Minuten gibt es in dieser Nacht einen Einschlag.
Manchmal klingen sie fern, leise, manche kommen so nah, dass das Haus
anfängt zu wackeln. Nicolaiwitsch hat alle seine Fenster mit Klebestreifen
geschützt – das soll vor gefährlichen Splittern schützen.
Die Gelassenheit täuscht. Nicolai Nicolaiwitsch zieht seine Stirn zusammen.
Zückt sein Handy, ruft noch fehlende Partygäste an. „Wo bleibt ihr“, fragt
er, „seid vorsichtig.“ Doch es hilft ja nichts. Auf den Frieden, auf die
Liebe! Nicolai packt das Akkordeon aus, stimmt griechische Lieder an, und
so sitzen die Männer und Frauen von Tschermalyk in dieser Nacht an einem
Holztisch und singen über Stimmen eines weit entfernten Friedens, was
sollten sie auch sonst tun?
„Und danach hören wir Deep Purple!“, bestimmt Nicolai.
Die Einschläge der Mörsergranaten werden leiser, verdrängt vom lauten
Gesang der Feiernden. „Zum Glück ist es für beide Parteien unvorteilhaft,
Zivilisten umzubringen“, sagt Anna Nikolajewna, „die brauchen uns als
politische Lobby, deshalb treffen sie nur noch selten das Dorf direkt.“
Nicolai Nicolaiwitsch antwortet: „Ganz nett von ihnen, dass sie den Krieg
so pragmatisch betrachten, nicht wahr?“ Seine Fenster bleiben an diesem
Abend ganz. Die Party endet in den späten Abendstunden, das Donnern auch.
Sonntag, neun Uhr, Messe. Harziger Geruch liegt in der Luft, der in ein
goldenes Ornat gehüllte Pope schwingt den Weihrauchkessel. Zwischen dem
dichten Rauch und Kerzenlicht erscheinen die Gäste der gestrigen Fete. Die
meisten grüßen sich nicht, dafür ist es noch zu früh.
Laute Mörser sind gut – die treffen einen nicht
Nach der Messe versammelt sich eine Gruppe vor der frisch renovierten
Kirche und spricht über den gestrigen Abend. „Hast du gehört? Bei ihnen hat
es ganz in der Nähe eingeschlagen, sie haben wirklich Glück gehabt.“
Manchmal fragen die Dorfbewohner die Soldaten, warum noch immer so nah am
Dorf geschossen wird. Die antworten dann: Es ist gut, wenn die Einschläge
laut sind. Wenn ein Mörser auf dem Weg zu euch ist, werdet ihr nichts davon
hören.
Auf einmal ist es wieder ruhig in Tschermalyk. Schließlich herrscht kurz
Frieden – sonntags nach der Kirche. Hier im Dorf sind sich alle einig: Das
Minsker Abkommen ist eine Illusion. Oder wie Anna Nikolajewna es
formuliert: „Es ist das, was sich manche Politiker erzählen, damit man sich
nicht darum kümmern muss.“ Aber es gibt keinen Waffenstillstand – es wird
geschossen. Jede Nacht. Nicht nur ein bisschen, und nicht nur mit kleinem
Kaliber, sondern viel und groß. So groß, dass die Häuser in Chermalyk
wackeln und die kollektive Anspannung steigt.
„Was wird aus uns, unserem Dorf, unserer Identität und aus unserem Leben“,
fragt Anna Nikolajewna.
Dann verabschiedet sie sich, will schnell nach Hause. „Mein Mann stirbt
schon“, sagt sie. Vor Hunger. Sie alle haben vor dem orthodoxen
Gottesdienst nichts gegessen, denn das dürfen sie nicht. Die Gruppe vor der
Kirche löst sich auf und die Menschen von Tschermalyk tauchen wieder im
Nebel unter.
11 Mar 2018
## AUTOREN
Philip Malzahn
Robert Putzbach
johanna-maria fritz
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
taz на русском языке
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