| # taz.de -- Buchpremiere in Berlin: Die Abenteuer des Michel Ruge | |
| > Michel Ruge legt mit „Große Freiheit Mitte“ ein pralles Realitätsdokume… | |
| > der Nachwendezeit und Chronik der Gentrifizierung vor | |
| Bild: Michel Ruge hat sich seinen heimatlichen Sprechklang bewahrt | |
| Es ist selten, dass einer so lange in der Hauptstadt lebt und sich seinen | |
| heimatlichen Sprechklang bewahrt hat. Michel Ruge ist so einer, ihm hört | |
| man an, dass er aus Hamburg stammt, aber nicht aus einem der besseren, | |
| schmallippigeren Viertel. | |
| Ruge hat fürs Leben auf St. Pauli gelebt und gelernt, ist das Kind einer | |
| Kellnerin auf dem Kiez und einem Mann, der sich im Leben seiner Mutter | |
| nicht lange hielt. 1969 geboren, kam er, nach bestandener | |
| Schauspielausbildung in Hamburg nach Berlin, beziehungsweise: in den | |
| Hotspot der Stadt, in die Trümmer und absolut ungentrifizierten Quartiere | |
| rund um den Rosenthaler Platz. | |
| Die Jahre, die er dort verbrachte, schildert er in einem neuen Buch „Große | |
| Freiheit Mitte“ – und wer jetzt denkt, na ja, na, da schreibt einer aus | |
| literarisch kaum stimulierter Herkunft über seine Jahre rund um die | |
| „Casting-Allee“, um die Straße zwischen U-Bahn Eberswalder, Torstraße und | |
| den Hackeschen Höfen ganz putzig, irrt und hat Recht zugleich. | |
| Der Bericht ist tatsächlich ein außergewöhnlich interessantes und lebendig | |
| verfasstes Stück Realitätsdokument, eine Drehbuchvorlage, eine Skizze | |
| dessen, wie es in diesem Gebiet aussah und wie es dort zuging, als der | |
| Prenzlauer Berg noch nicht auf dem Weg zum Rollatordorado war und die | |
| Häuser und Hinterhöfe noch wie ostzonal nie verhübschter Nachkrieg rochen. | |
| Das war die Zeit, in der sich Ruge tummelte, frisch aus Hamburg | |
| eingetroffen, aber ein junger Mann wie er, der findet seinen Platz. Und | |
| wie! 235 Seiten sehr smart, prall geschriebene Seiten als Protokoll eines | |
| Lebens zwischen Nacht und Tag, während der geprügelt, gedroht, konkurriert, | |
| gelacht und geflachst, gefickt und wieder gefickt wird. | |
| Michel Ruge ist die Trophäe der auf dem Weg zu Ruhm und Schönheit gelangten | |
| Weiberwelt der Jeunesse d’orée, er war der Hahn, der allerdings auch | |
| scheitert, etwa an einer Attraktiven, die ihn verstößt, als sie durch ihn | |
| schwanger wird – und ihr Dinge ohne ihn, durchaus mit sentimentalen | |
| Gefühlen bei ihm, durchzieht. | |
| Der eigentliche Kern des Buches ist aber, aller prallen Prosa zum Trotz, | |
| eine Chronik der Gentrifizierung. Ruge war eben die Jahre dabei, als | |
| Türsteher in den angesagtesten Clubs, als multiplikatorischer | |
| Klamottenträger für angesagte Labels und solche, die es noch werden | |
| wollten. | |
| Das Viertel, das das heißeste der Nachwenderepublik war, wurde deshalb auch | |
| für Investoren im Immobilienbereich lecker – und am Ende war aus dem | |
| Abenteuerspielplatz, der „[1][Großen Freiheit Mitte]“, ein gefegtes und | |
| sterilisiertes Stück Stadt geworden – auferstanden aus Ruinen, durchaus | |
| nicht zum Lebendigsten fortan. | |
| Überspitzt ließe sich sagen: Um die soziologischen Expertisen etwa eines | |
| Andrej Holm zu verstehen, ist eine Geschichte wie die Michel Ruges voran | |
| gelesen perfekt. Man spürt in jeder Zeile, wie es sich für die | |
| Kolonisatoren des spitzenmäßigsten Viertels des Post-Ostberlin anfühlte, | |
| einfach die Welt jenseits ignoriert zu haben: Man war unter sich, weil es | |
| Spaß machte – und der Rest so bürgerlich und vorhersehbar. | |
| Herrlich, dieser Reigen an (Szene-) Promifiguren, die Ruge auf eine | |
| Perlenschnur zieht – absolut unangeberisch. Da ist die fiese, an sich | |
| selbst und ihrem Milieu selbstbesoffene Castingfrau im „Schwarzen Raben“ an | |
| der Neuen Schönhauser Allee; oder der unprätentiöse Bernd-Michael Lade, | |
| Ex-Punker, „Tatort“-Kommissar und in ungeschmücktem Altbau im Prenzlauer | |
| Berg lebend, ebenfalls part of the Kastanienallee game; oder diese | |
| Schilderungen über den Kampfsport, dem Ruge anhängt, Escrima, eine | |
| definitiv nicht auf Kuscheldefensive setzende Art des Fight Mann gegen | |
| Mann. | |
| All diese Jahre, über die Michel Ruge Zeugnis ablegt, wirken lesend auf | |
| einen, als sei das, was man in der Berliner Lokalpresse über diese | |
| heiter-nervösen Leute las, nur die halbe Wahrheit: Dieses Buch von der | |
| „Großen Freiheit Mitte“ schildert, als Pageturner, wie es echt war: | |
| großartig offenbar, und doch, wie alle Szenen, die an Ort, Zeit und | |
| Jugendlichkeit hängen, am Ende gescheitert. | |
| Der Autor macht daraus keinen Hehl, schildert sich selbst allerdings als | |
| eine Figur, die das Treiben in der Nachwendezeit in Berlin-Mitte immer | |
| lebensernst genommen hat. Er hätte so weiter machen können, immer und bis | |
| jetzt. Manche hatten da andere Pläne. Gründeten Firmen, gingen in die | |
| Bürgerlichkeit, wie Ruge den Zustand von Geordnetheit eines Lebens nennt, | |
| beendeten akademische Ausbildungen und brachten so ihre Schäfchen ins | |
| Trockene. | |
| So recht scheint das Ruge, der Autor in eigener Sache, aber nicht zu | |
| stören, auch wenn ihn irritiert, dass, als er seine Tochter samt Mutter, | |
| die ihn abwies, auf der Straße trifft, er gerne ein Familienmensch wäre. | |
| Und das doch nicht ist, vielleicht nicht sein kann, Kind auf St. Pauli in | |
| Hamburg, wo jetzt der letzte Dreck weggereinigt wird, als sei’s auch nur | |
| ein Prenzlauer Berg und nicht die auch heimelige Schmuddelecke einer | |
| bürgerlichen Stadt an der Elbe. In Berlin gibt’s das nirgends mehr. | |
| Am Ende löst sich die Anekdote mit Ruges Traumschönster auf – in einem real | |
| existierenden Puff am Olympiastadion, weit im Westen. Ruge bemerkt, der | |
| Abenteuerspielplatz rund um die Casting-Allee sei der größte Puff des | |
| Landes gewesen, nur ohne Geld, das sei der Unterschied zum Haus des | |
| Escort-Service im schnieken Westberlin. | |
| Nebenbei kriegt auch Klaus Wowereit noch einen mit, mit ihm als | |
| Bürgermeister habe der investorische Ausverkauf der Stadt erst tüchtig | |
| Fahrt aufgenommen, mit seiner Regierungszeit sei es mit den Provisorien | |
| vorbei gewesen. | |
| Das Berghain taucht in diesem Buch nicht einmal als Beiläufigkeit auf. Man | |
| möchte gern wissen: War (und ist) dieser ja noch vergleichsweise neue im | |
| Irgendwo am Ostbahnhof liegende Tempel womöglich das strikt eingehegte | |
| Ersatzspielfeld für alle, die sich gern nachts entgrenzen und in den | |
| sanierten Vierteln keinen Platz mehr finden und wenigstens dort einer Zeit | |
| nachtrauern, in der für viele, etwa Michel Ruge, alles nach Anfang und | |
| Aufbruch, gar nach der Anarchie sperrmülliger Flächen schmeckte? | |
| Kurz: Der Berlin-Roman des Monats im noch jungen März. | |
| Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
| immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
| 28 Feb 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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