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# taz.de -- Berliner Strafvollzug: Ein Ausbruch und die Folgen
> Die Gefangenen in der JVA Tegel frohlocken, die Bediensteten sind
> beschämt, und der Justizsenator bleibt unter Beschuss. Zu Recht?
Bild: Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne)
Fast alles war wie in dem Film „Flucht von Alcatraz“: vier Gefangene, einer
wird von Clint Eastwood gespielt, fliehen dort auf spektakuläre Art aus dem
US-Hochsicherheitsgefängnis auf einer Insel im Meer. In den Betten ihrer
Zellen lassen sie selbst gebaute Attrappen zurück, die Flucht wird erst am
nächsten Morgen bemerkt. Neun Stunden Vorsprung haben sie da.
Die JVA-Tegel ist zwar nur von einem Häusermeer umgeben, aber dem
24-jährigen Hamed M. gelang am Mittwochabend die Flucht mit dem gleichen
Trick. Als die Attrappe am Donnerstag bei der Morgenkontrolle im Bett
entdeckt wird, ist M. seinen Verfolgern zehn Stunden voraus. Versteckt
unter einem Lkw, der jeden zweiten Mittwoch die Einkäufe der Insassen
ausliefert, hat M. das Gelände verlassen. Beim nachmittäglichen Hofgang
wurde er zuletzt gesehen. Vermutlich hing der 1,63 große Mann Stunden unter
dem Lkw, bevor der gegen 20 Uhr den Ausgang passierte.
In Tegel und nicht nur dort ist die Flucht seither Topthema. „Clever – der
Mann hat Mut und Eier“, beschreibt ein Knacki die Stimmung unter
Gefangenen. „Das ist hier ja schließlich ein Hochsicherheitsgefängnis.“
Soll heißen, in Tegel gelten höhere Sicherheitsstandards als in
Gefängnissen wie der JVA Plötzensee. Dort waren vier Gefangene kurz vor
Weihnachten entkommen, in dem sie am helllichten Tag einen Lüftungsschacht
in der Mauer mit Werkzeugen aufgehebelt hatten. Inzwischen sind alle wieder
gefasst.
Nicht amüsiert zeigt sich dagegen die Beamtenschaft. „Dass sich die
Insassen ins Fäustchen lachen, nehmen wir sportlich“, sagt Thomas Goiny,
Landesvorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensteten. Aber das mit
der ausgestopften Puppe sei der Super-GAU. „Das ist doch der Klassiker, das
trifft uns in unserer Berufsehre.“ Allerdings sei die Schuld nicht bei den
Kollegen zu suchen, so Goiny. Aus Krankheitsgründen seien in der besagten
Spätschicht nur 9 statt 13 hauptamtliche Bedienstete in der Teilanstalt II
tätig gewesen. Rund 300 Häftlinge sitzen dort ein.
Mit mehr Personal, demzufolge weniger Stress und moderner Technik wäre die
Flucht nicht passiert, ist Goiny überzeugt. Wie früher am DDR-Checkpoint
werde der Unterboden der Fahrzeuge mit einem Spiegel auf zwei Räder und
einer Lampe abgesucht. „Wir brauchen Wärmebildscanner und Fototechnik“, so
Goiny.
Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) lässt derzeit prüfen, welche
Konsequenzen aus dem Ausbruch aus Tegel zu ziehen sind. Für die JVA
Plötzensee hat er bereits eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz
des Amtsgerichtspräsidenten eingesetzt. Sie wird am 15. März einen Bericht
vorlegen. Untersucht wird die gesamte Sicherheitsagentur, also auch die
Arbeitsabläufe.
Behrendt steht unter Druck. Die Berichterstattung der letzten Wochen zeigt,
dass die Presse wenig bis gar nicht differenziert, wenn ein Gefangener das
Weite sucht. Fluchten aus dem geschlossenen Vollzug werden mit sogenannten
Entweichungen in einen Topf geworfen. Ein Beispiel: Die Berliner Zeitung
schrieb am Freitag, M.s Flucht sei „die zehnte Flucht in sechs Wochen“ und
„Sinnbild für die Überlastung der Gefängnisse“. Tatsächlich sind seit
Dezember fünf Häftlinge nicht aus dem Freigang in den offenen Vollzug
zurückgekehrt. Fünf weitere sind wirklich ausgebrochen, indem sie
Sicherheitsanlagen mit List oder Gewalt überwanden. Im Vergleich zu den
Entweichungen sind richtige Ausbrüche in Berlin äußerst selten (siehe
Kasten).
„Gebt doch gleich den Knackis die Schlüssel“ – Schlagzeilen wie die am
Freitag in der B.Z. sind für die rot-rot-grüne Landesregierung fatal. „Wenn
die Leute den Eindruck haben, die Gefängnisse sind nicht sicher, können wir
noch so gute Arbeit machen“, warnt man in Koalitionskreisen. Auch wenn
Behrendt dafür persönlich keine Verantwortung habe: Dass Kontrollen
dermaßen versagten – das dürfe nicht passieren. Der Justizsenator müsse
deutliche Schwerpunkte setzen.
Der rechtspolitische Sprecher der Linken, Sebastian Schlüsselburg,
verteidigt den Justizsenator. Auf der Senatsklausur im Januar habe Behrendt
12 Millionen Euro für sofortige Sicherheitsmaßnahmen im Strafvollzug
rausgeholt. Die Ausbildungszahlen für das Justizpersonal seien so
hochgefahren worden, dass die Lücke von 200 Stellen in den Knästen Ende
2019 geschlossen werden könne. Der aktuelle Ausbruch sei aber nicht allein
auf die Personalausstattung zurückzuführen, sondern auf menschliches
Versagen, so Schlüsselburg. Am 21. Februar werde man im Rechtsausschuss
sowohl über neue Technik für Pforten reden als auch darüber, wie
eingeschliffene Kontrollabläufe verändert werden könnten.
Hamed M. ist nach wie vor verschwunden. Ob ihm auch hier die Flucht von
Alcatraz Pate steht? Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit. 1962
flohen drei Männer von der Gefängnisinsel. Ob sie ertrunken sind oder es
geschafft haben, blieb offen. Nichts wurde von ihnen je gefunden.
13 Feb 2018
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Strafvollzug
Dirk Behrendt
Dirk Behrendt
Berlin-Tegel
Strafvollzug
Dirk Behrendt
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
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