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# taz.de -- Frankreichs Präsident besucht Calais: Die Wartenden am Ärmelkanal
> Am Ärmelkanal warten wieder Migranten auf eine Chance zur Reise nach
> England. Es sind wenige, aber die Lage ist noch immer verzweifelt.
Bild: Von der Polizei gejagt, auf der Suche nach einem Lastwagen nach England: …
Calais taz | Der Zaun vor dem Lkw-Parkplatz ist engmaschig. Oben und unten
hat man ihn großzügig mit Stacheldraht umwickelt. Dutzende Trucks stehen
dahinter, zu deren Schutz zwei Busse der französischen
Polizei-Spezial-Einheit CRS geparkt sind. Einer lässt das Blaulicht über
den Parkplatz kreisen. Vor dem anderen hält ein Polizist die Stellung. Doch
uneinnehmbar ist diese Festung nicht: ganz links am Ende des Zauns ist eine
Lücke ins Gitter geschnitten, groß genug, dass ein Mensch ohne allzu viele
Verrenkungen hindurchkann.
Vor dem Loch gehen an diesem diesigen Morgen jene vorbei, die es hier
eigentlich gar nicht mehr geben soll: die Transitmigranten, von denen die
Verwaltung in Calais vor etwas mehr als einem Jahr glaubte, sich ihrer
entledigt zu haben. In der Stadt Calais hält hat man diesen Anschein
tatsächlich weitgehend aufrecht, denn dort sieht man kaum noch Migranten.
Doch rund um einen Kreisverkehr draußen am Stadion, zwischen Autobahn und
Industriegebiet, streifen sie wieder in Zweier- und Dreiergrüppchen herum,
die Kapuzen hochgezogen gegen die beißende Kälte. Eine Gruppe kauert in der
Böschung der Autobahnbrücke und blickt den Lastwagen hinterher. Sie alle
eint der Traum von einem besseren Leben in Großbritannien.
Calais hat sein Problem nur an den Rand gedrängt. Dort aber zeigt es sich
offen. Genau deshalb ist Emmanuel Macron in die Stadt gekommen. Wenn
französische Staatspräsidenten sich hierher begeben, liegt das in der Regel
an den Transitmigranten.
Als Macrons Vorgänger François Hollande im Spätsommer 2016 anrückte,
kündigte er an, den „Jungle“ zu räumen, jenes wilde Lager, in dem Tausende
Menschen campierten. Macron ist gekommen, weil sich die Lage alles andere
als beruhigt hat. Die Verzweifelten sind wieder in der Stadt. Es sind nicht
Tausende wie früher, nur 600 oder 700.
## Der frustrierte Helfer: „Ändern wird sich hier nichts“
François Guennoc arbeitet seit Jahren in der Unterstützerszene. Seine
Organisation, L’Auberge de Migrants, ist dem Gespräch ferngeblieben, das
der Präsident mit Vertretern der Freiwilligen führt. Guennoc sieht darin
ein Alibi, mit dem die Regierung zeigen will, dass sie dialogbereit ist.
„Doch ändern wird sich hier nichts, und zwar auf Jahre nicht.“
Was ist es, das Guennoc so resignieren lässt? „Wir hatten drei Tote hier in
den letzten vier Wochen: Personen, die nachts auf der Autobahn ums Leben
kamen, beim Versuch, in einen Lkw zu gelangen.“ Dazu kommt die Gewalt, mit
der die Polizei gegen die Migranten vorgeht.
Erst im Herbst letzten Jahres ist [1][eine Studie des „Refugee Rights Data
Project“ erschienen], in der knapp 92 Prozent der Migranten angaben, sie
hätten schon Erfahrungen mit Polizeigewalt machen müssen. Auch werde, so
sagten sie, alles, was nach einer Niederlassung aussehe, zerstört. Wobei,
so vernimmt man wiederum von Freiwilligen, sich die Polizei vor dem
Macron- Besuch auffallend zurückgehalten habe, um den Journalisten keine
entsprechenden Bilder zu liefern.
Es gibt noch eine andere Geschichte, die man sich hier erzählt, und wer
häufiger in Calais war, hört sie nicht zum ersten Mal. Schon vor Jahren
hieß es, wenn die Lage in Calais besonders heikel würde, dann gelangten mit
einem Mal plötzlich mehr Migranten als üblich nach Großbritannien. Auch vor
Macrons Visite am Kanal soll das der Fall gewesen sein. Jedenfalls, sagt
L’Auberge-Mitglied Sylvain De Saturne, hätten es in letzter Zeit einige
Personen hinübergeschafft nach Großbritannien. Offiziell bestätigen würde
diesen Zusammenhang natürlich niemand.
Andererseits: In 20 Jahren Transitmigration gab es in Calais nie etwas, das
über die Verwaltung des Elends hinausreichte. So wie diesen Zaun mit seinen
zwei Rollen Stacheldraht, einem Durchgang zur Straße und zwei Einheiten
Spezialpolizisten, am Eingang zum Industriegebiet Marcel Doret. Von hier
aus sind es nur ein paar Minuten mit dem Auto bis zu einem anderes
Industriegebiet, Des Dunes genannt, das einst den „Jungle“ beherbergte.
## Die Migranten leben versteckt in einem Wäldchen
Keinen Kilometer davon entfernt, in einem dichten Wäldchen, liegt nun der
Ort, an dem sich die meisten Migranten verstecken. Und nur wenige hundert
Meter weiter befand sich einst das Vorvorgängerlager des „Jungle“, 2009
geräumt. Voilà: Elendsverwaltung, die sich im Kreise dreht.
Zweimal täglich belebt sich die Szenerie vor dem Wäldchen. Dann kommen
Helfer mit Lieferwagen herüber, aus denen sie Essen austeilen und manchmal
auch Schlafsäcke. An diesem Mittag hat sich eine lange Schlange gebildet,
Männer und Jugendliche aus Pakistan, Afghanistan und Iran, aus Eritrea,
Sudan oder Äthiopien. Es gibt Nudelsuppe, Brot und Orangen, und wie immer
wird zur Unterhaltung auf der asphaltierten Fläche ein ziemlich platter
Ball herumgekickt. Plötzlich ertönen von der Straße her Rufe. Eine Gruppe
von Migranten kommt um die Ecke gerannt. Daneben ragt ein hoher roter
Lastwagen über die Lagerhallen hinaus.
Der Fahrer erscheint auf dem Dach, er öffnet eine Luke, und zwei Gestalten
springen herunter. Unterdessen steht das Essen unbeachtet auf den Tischen.
Vor allem die Jungen haben sich Steine gegriffen, die sie nun in Richtung
der Polizisten werfen, die um dieselbe Ecke kommen. Die Spezialpolizei
schießt Tränengaspatronen ab, es raucht auf dem Platz, wo eben noch die
Suppe verteilt wurde. Die Helfer setzen sich in ihre Autos und machen sich
davon. Fünf Polizeibusse versperren den Durchgang zur Straße, einen
kleineren Weg auf der anderen Seite riegelt eine Spezialeinheit ab. Eine
halbe Stunde halten sie die Migranten vor ihrem Wäldchen in Schach, dann
ziehen sie sich zurück.
## Ein Iraner berichtet über Polizeigewalt
Wenig später kehren die Helfer zurück. Nun wird deutlicher, was bei dem
roten Lkw eigentlich passiert ist. Ein junger Iraner erzählt, der Fahrer
habe Migranten entdeckt, die sich dort versteckt hätten. Er habe die
Polizei gerufen, die sofort zur Stelle gewesen sei, doch alle Entdeckten
seien rechtzeitig entkommen, bis auf einen, den sie zuerst geschlagen und
dann festgenommen hätten. Was danach kam, der Polizeieinsatz am Rande des
Wäldchens, ist ein Gradmesser für die Anspannung, die derzeit in Calais
überwiegt.
Warum ist es so weit gekommen? Der Mann aus dem Iran, der seinen Namen
nicht nennen will, hat dazu einiges zu sagen. Seit vier Wochen sei er hier,
sagt er, und zahllose Male wurde er seither von der Polizei geweckt. „Sie
kommen in den Wald. Es gibt keine feste Zeit, manchmal um zwei Uhr nachts,
manchmal morgens um fünf. Wenn wir ein Zelt haben, öffnen sie es und
sprühen Tränengas auf uns. Egal wer darin liegt, auch wenn es Minderjährige
sind. Dann zerstören sie die Zelte und nehmen uns die Schlafsäcke weg.
Manchmal verbrennen sie auch Schlafsäcke oder sie werfen sie in ein großes
Fahrzeug, mit dem sie alles wegkarren.“
In der letzten Nacht lag die Temperatur wieder einmal um den Gefrierpunkt.
Einen Schlafsack oder ein Zelt hätten sie nicht, sagt der Mann aus dem
Iran, nur ihre Jacken.
Einige umstehende Afghanen nicken. „Die einzige Möglichkeit ist, sich an
die Kälte zu gewöhnen“, sagt einer von ihnen. „Wenn wir dann aus dem Wald
auf die Straße gehen, um Lastwagen zu suchen, sprühen die Polizisten
Tränengas auf uns oder sie schlagen uns. Fast jeden Tag schlagen sie uns!“
Ein junger Mann um die 18 zieht zum Beweis seine Mütze ab. Zwischen den
kurzen schwarzen Haaren ist deutlich eine dunkle Kruste sichtbar. „Vor zwei
Tagen wollte ich auf einen Lkw. Sie schlugen mir mit dem Stock auf den
Kopf.“
16 Jan 2018
## LINKS
[1] http://refugeerights.org.uk/wp-content/uploads/2017/11/RRDP_TwelveMonthsOn.…
## AUTOREN
Tobias Müller
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