# taz.de -- Heiligabend in der Senioren-WG: Der Geist vergangener Feste | |
> Für die BewohnerInnen einer Senioren-WG in Berlin-Kreuzberg ist | |
> Weihnachten vor allem ein Fest der Erinnerungen. | |
Bild: Weihnachtsfeier in einer Senioren-WG in Berlin-Kreuzberg | |
Morgen, Kinder, wird’s was geben! / Morgen werden wir uns freun! / Welche | |
Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause sein; / Einmal werden wir noch | |
wach, / Heißa, dann ist Weihnachtstag! | |
An einem dunklen Abend im Advent steht die Ehrenamtliche Gisela Kirschberg | |
in der Senioren-WG eines Pflegeheims in der Kreuzberger Dieffenbachstraße | |
und drückt gut gelaunt auf die Play-Taste ihres CD-Players. | |
Annemarie Kunstmann, 98 Jahre alt, schüttelt milde amüsiert ihre kinnlangen | |
weißen Haare: „Das sind ja Kinderlieder!“ Sie setzt sich auf das rote Sofa | |
in der Sitzecke ihrer WG, vor den kleinen Couchtisch, auf dem Tellerchen | |
mit Kipferln und Mandarinenschnitzen stehen und Teetassen, aus denen es | |
dampft: „Unglaublich penetrant dieser Glühweingeruch, nicht wahr?“, sagt | |
sie, lacht leise in sich hinein und trinkt vorsichtig einen kleinen | |
Schluck. | |
Einmal im Monat kommen zwei Ehrenamtliche in die Seniorenwohngruppe des | |
Pflegeheims. Sie singen gemeinsam mit den elf Bewohnerinnen und lesen ihnen | |
vor. Jetzt, im Dezember, wird daraus eben eine kleine Weihnachtsfeier. | |
Gisela Kirschberg, die Ehrenamtliche, liest etwas Adventliches von Hans | |
Christian Andersen; erstaunlich textsicher arbeitet man sich dann gemeinsam | |
durch das einschlägige Repertoire an Weihnachtsliedern. | |
Einmal werden wir noch wach, / Heißa, dann ist Weihnachtstag! | |
Helga Agnes Drews sitzt am Tisch in der WG-Küche und schiebt den | |
Vanillejoghurt vom Abendbrot beiseite. Weihnachten, sagt die zierliche | |
kleine Frau mit den schwarz gefärbten Haaren, da sehe sie immer ihr | |
Wohnzimmer vor sich, damals in der Akazienstraße in Schöneberg, wo sie mit | |
ihrem Mann und ihren zwei Kindern lange Jahre gelebt habe. „Die | |
Wohnzimmertür war aus Mattglas. Wir haben immer drauf geachtet, dass die | |
Kinder nicht gelinst haben, bevor alle Kerzen am Baum brannten. Meine | |
Mutter kam zu Weihnachten, mit ihrem zweiten Mann, und unser | |
alleinstehender Nachbar mit seiner Gitarre.“ Das, sagt sie, „das war die | |
schönste Zeit“. | |
## Der Geist vergangener Weihnachten | |
Drews und ihre Mitbewohnerinnen, sie feiern an diesem Adventsabend vor | |
ihren Glühweintassen weniger das kommende Weihnachtsfest als den Geist | |
vieler vergangener Weihnachten. | |
Weihnachten, sagt Annemarie Kunstmann, das war die Christmette im Münchner | |
Dom. Kunstmann ist erst vor Kurzem nach Berlin gezogen, weil hier | |
inzwischen die Verwandtschaft wohnt, die noch übrig ist. „Glauben Sie’s | |
oder nicht, Berlin war tatsächlich immer mein Lebenstraum“, sagt sie. | |
Früher, in München, ging es jedenfalls immer punkt Mitternacht in den Dom, | |
und der damals kleine Sohn, der inzwischen schon gestorben ist, durfte dann | |
lange aufbleiben. | |
Welche Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause sein. | |
Und dann? Dann sei das ganz normale Leben passiert, was sonst? „Keine | |
Krise, nein, das nicht. Die Kinder wurden groß, jeder ging seiner Wege“, | |
sagt Drews. Sie nimmt prüfend eine Kerze vom Couchtisch: „Sind die echt?“ | |
Sind sie nicht, das Glimmern in dem vermeintlichen Wachsstumpen ist eine | |
LED-Birne hinter mattem Plastik. | |
Als Helga Agnes Drews, 74 Jahre alt, gelernte Hutmacherin, später | |
langjährige Chefin ihrer eigenen Drogerie in der Schöneberger | |
Akazienstraße, vor ein paar Jahren einen Schlaganfall hatte, konnte ihre | |
Tochter sich neben dem Job nicht auch noch um die Mutter kümmern. Drews zog | |
in die Senioren-WG in der Dieffenbachstraße. Zu Weihnachten kommen ihre | |
Kinder und die vier Enkel sie besuchen. | |
## „15 haben niemanden mehr“ | |
Das ist nicht selbstverständlich, sagt Hausleiterin Viola Kleßmann. Von den | |
insgesamt 93 BewohnerInnen haben „ungefähr 15 niemanden mehr“. Nach Hause | |
geholt würden ohnehin nur die wenigsten: „Viele unsere Bewohner sind dement | |
und sehr pflegebedürftig, da fühlen sich viele Angehörige schnell | |
überfordert.“ | |
Weihnachten, sagt Kleßmann, sei mehr noch als sonst bei den Angehörigen | |
„die Zeit des schlechten Gewissens“. Wie bezieht man die demente Mutter mit | |
ein, sodass es für alle besinnliche Festtage werden? | |
Im Haus Bethesda ist Weihnachten hingegen schlicht ein Job, der auf viele | |
professionelle Schultern verteilt wird: Die Küche bekommt den Auftrag | |
„Kartoffelsalat und Würstchen“, die PflegerInnen bekommen den Auftrag, für | |
die BewohnerInnen kleine Fünf-Euro-Geschenke für die große gemeinsame | |
Bescherung unterm Weihnachtsbaum zu besorgen, der mit allen BewohnerInnen, | |
die noch helfen können, gemeinsam geschmückt wird. | |
Ist das ein schönes Weihnachten? „Ach, wissen Sie, Weihnachten ist doch | |
auch immer eine Frage der Erwartungshaltung“, sagt Drews. Also ja, sagt | |
sie. „Ich finde, ja.“ Das Leben ist eben weitergegangen, was auch sonst? | |
Wisst ihr noch, wie vor’ges Jahr / Es am Heil’gen Abend war. | |
24 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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