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# taz.de -- Das Sterben der Urwälder im Meer: Zurück bleibt eine Seeigelwüste
> Besorgt beobachten Wissenschaftler, wie riesige Tangwälder vor den Küsten
> verschwinden. Übrig bleibt Ödland auf dem Meeresgrund.
Bild: Ziemlich hungrig: Eine Seeigel-Kolonie auf dem Meeresgrund
Um rund 1,6 Grad Celsius haben sich die Meere in den letzten Jahrzehnten
erwärmt – das war alles, was es brauchte, um einst üppige, artenreiche
Riesentangwälder vor Australien und Tasmanien dem Untergang zu weihen:
Dicke Pflanzenschichten, die einst einen Großteil der Meeresoberfläche an
den Küsten bedeckten, verwelkten im zu warmen und nährstoffarmen Wasser.
Dann wanderten Seeigel ein. Die unersättlichen Pflanzenfresser grasten die
verbliebene Vegetation ab, zurück blieb, was Wissenschaftler Seeigel-Ödland
nennen – trostlose Meeresgebiete, die weitgehend frei von Leben sind.
Bis heute sind mehr als 95 Prozent der Tangwälder im Osten Tasmaniens
verschwunden – einst üppige Ökosysteme im Meer, die Nahrung und Lebensraum
für Arten auf allen Ebenen der Nahrungskette bieten. Weil sich das Wasser
schnell weiter erwärmt und sich die Seeigel nach Süden ausbreiten, sehen
Wissenschaftler kaum Chancen, das Ökosystem zu retten.
„Unsere Riesentangwälder sind auf einen winzigen Bruchteil ihrer einstigen
Pracht geschrumpft“, sagt Craig Johnson, Wissenschaftler am Institut für
Meeres- und Antarktisstudien der Universität von Tasmanien. „Das Ökosystem
war eine Ikone Osttasmaniens – das ist vorbei.“
Das tasmanische Beispiel ist nur eins von vielen, wie Klimawandel und
andere Umweltveränderungen weltweit dem Riesentang zu schaffen machen,
einer Braunalge mit bis zu 35 Meter langen Stielen. In Westaustralien
vernichtete der Anstieg der Meerestemperatur riesige Bestände der
einheimischen Art Ecklonia radiata. Im Süden Norwegens ist der Zuckertang
seit den 1990ern massenhaft abgestorben, zurück blieben Algenmatten. In
Westeuropa bedroht die Erwärmung des Atlantiks die Bestände von Fingertang.
Wissenschaftler der Universität Lille prognostizierten 2013, dass die Art
in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts bei Frankreich, Dänemark und
Südengland ausstirbt.
Im Osten Tasmaniens ist die Temperatur an der Meeresoberfläche viermal so
stark angestiegen wie im weltweiten Durchschnitt, berichtet Craig Johnson,
der den Rückgang der Tangwälder der Region zusammen mit seinem Kollegen
Scott Ling genau beobachtet hat. Die australische Regierung führt
Riesentangwälder als bedrohtes Ökosystem. Die dramatische Umweltveränderung
begann Mitte des 20. Jahrhunderts und beschleunigte sich in den frühen
1990er Jahren. Riesentang, Macrocystis pyrifera, wächst laut Johnson am
besten bei 10 bis 15 Grad Celsius Wassertemperatur, mittlerweile erwärmt
sich das Wasser im Sommer auf 18 Grad.
## Die Fressfeinde der Seeigel vernichtet der Mensch
Eine andere Folge der Temperaturveränderung ist ähnlich gravierend: Der
Antillen-Diademseeigel, der mindestens 12 Grad Celsius braucht, hat sich
mit seinen wandernden Larven nach Süden in die tasmanischen Gewässer
ausgebreitet. Auf ihre natürlichen Fressfeinde trafen die Seeigel kaum:
Hummer werden seit Jahrzehnten heftig gefischt.
Seit den 1980er Jahren haben außerdem Diademseeigel der Art Centrostephanus
rodgersii den Meeresgrund südöstlich von Australien und nordöstlich von
Tasmanien übernommen. Sie bilden dort riesige Seeigelwüsten, ein
bemerkenswertes Phänomen der Meeresökologie.
Dabei leben die Tiere so dicht, dass sie die Vegetation am Meeresgrund
auslöschen und eine Art Sperre gegen ökologische Veränderungen schaffen.
„Wenn ein Gebiet erst mal in eine Seeigelwüste umgekippt ist, gibt es
faktisch keine Chance auf eine Erholung“, sagt Johnson. An der Südwestküste
der japanischen Insel Hokkaido und vor den Aleuten bestehen solche Wüsten
seit Jahrzehnten. Lediglich den Südosten Tasmaniens haben die Seeigel
bisher noch nicht überrannt. „Aber wir sehen, dass sich das Problem nach
Süden bewegt“, sagt Johnson. Rund die Hälfte der Küste werde sich in eine
Seeigelwüste verwandeln, fürchtet er.
Eine ähnliche Entwicklung spielt sich im nördlichen Kalifornien ab, wo
Taucher und Fischer berichten, wie die regionalen Bullentangwälder
kollabieren. Die Probleme begannen im Jahr 2013, als ein mysteriöses
Syndrom viele Seesternarten der nordamerikanischen Westküste ausrottete.
Seesterne – vor allem Pycnopodia helianthoides, der Sonnenblumen-Seestern –
fressen Seeigel. Mit dem plötzlichen Verschwinden der Jäger wuchs die
Population der Purpurseeigel schnell. Gleichzeitig verhinderten
ungewöhnliche Winde und Meeresströmungen den Auftrieb von kaltem,
nährstoffreichem Wasser, das die Gewässer vor der Westküste Nordamerikas
sonst so ertragreich für Tang macht. Die Wälder verschwanden.
## „Die Seeigel sind überall“
Der Auftriebskreislauf hat seitdem wieder den Betrieb aufgenommen. „Aber
das System kann sich nicht erholen, auch nicht mit einem Rückgang der
Wassertemperatur“, sagt Kyle Cavanaugh, Dozent für Geografie an der
Universität Kalifornien, der globale Tangökosysteme erforscht. „Die Seeigel
sind überall.“ Taucher, die den Meeresboden untersuchten, zählen bis zu
100-mal so viele Seeigel wie früher, sagt Cynthia Catton, Biologin der
kalifornischen Fischereibehörde. An manchen Orten zernagen Dutzende Seeigel
pro Quadratmeter die Überbleibsel der Tangwälder, 95 Prozent sind bereits
vernichtet.
Auch andere Tiere sind von Tang abhängig. Rote Seeohren, eine Schneckenart,
sterben in Massen, Hobbyfischerei könnte im kommenden Jahr verboten werden,
sagt Catton. Viele Jungfische nutzen Tang als Brutstätte, die Bestände
mancher Fischarten könnten also mangels schützender Vegetation zurückgehen.
Auch die Bestände der kommerziell geschätzten roten Seeigel – fingergroße,
goldene Keile, die auf Sushi-Menüs als Uni stehen – sind betroffen, da ihre
Keimdrüsen schrumpfen.
Seeigelwüsten gelten als stabiler Zustand eines Ökosystem. Das heißt, die
Tiere müssten fast komplett ausgerottet werden, damit wieder Tangwald
entstehen kann. „Man braucht viel mehr Seeigel, um eine Wüste zu schaffen,
als um sie aufrechtzuerhalten“, so Johnson. Seeigel sind zudem extrem
widerstandsfähig und verhungern kaum. Wenn sie alle Pflanzen aufgezehrt
haben, überleben sie fast alle anderen konkurrierenden Organismen. In den
Seeigelwüsten Hokkaidos, die vor 80 Jahren aus unerklärlichen Gründen
entstanden, leben laut einer Analyse aus dem Jahr 2014 einzelne Seeigel
schon seit fünf Jahrzehnten in der zusammengebrochenen Umwelt.
## Hungrige Seeigel
Was noch schlimmer ist: Seeigel werden umso zerstörerischer, je hungriger
sie sind. Studien haben gezeigt, dass Kiefer und Zähne kräftiger werden –
so können sie sonst unverwertbares Material fressen.
„Sie fressen sich durch Rankenfußkrebse, durch Korallenalgen, die auf
Felsen siedeln, und durch Abalonenschalen“, sagt Catton. Seeigel werden
auch aggressiver. Während sie in gesunden Tangökosystemen einen Großteil
ihres Lebens in Felsspalten verbringen und auf driftenden Tang warten,
verlassen sie ihr Versteck, wenn die Umgebung verwüstet ist, und jagen
aktiv nach Nahrung.
In Tasmanien setzen Johnson und Ling Felshummer aus, die die Seeigel
zurückdrängen sollen. Regierungsbehörden haben den Fang von Hummer stark
eingeschränkt. Trotzdem hat sich die Seeigeldichte seit 2001 an Dutzenden
von Forschungsorten mehr als verdoppelt. Lediglich bei relativ kleinen
Wüsten, die von gesunden Riffökosystemen umgeben sind, haben Hummer die
Seeigel so weit verringert, dass wieder Pflanzen wachsen können.
## Eine kleine Hoffnung ist der gefräßige Seeotter
„In die großen Wüsten kann man so viele Hummer setzen, wie man will. Sie
fressen Hunderttausende von Seeigeln, trotzdem dezimiert sie das nicht
genug, dass sich der Tang wieder erholen kann“, sagt Ling. „Selbst wenn man
all diese Seeigelwüsten morgen in Meeresschutzgebiete umwandeln würde,
könnte man 200 Jahre warten und hätte immer noch keinen Tangwald zurück.“
Lediglich in Zentralkalifornien wachsen die Tangwälder wieder: Dort gibt es
viele Seeotter, die gefräßige Seeigelräuber sind.
Carr taucht nicht nur als Forscher, sondern auch in seiner Freizeit. Dabei
verfolgt er den Rückgang der nordkalifornischen Tangwälder mit großer
Sorge. „Es ist, als verwandelt sich ein Wald, den man einst kannte, in eine
Wüste“, sagt er. „Es gehen nicht nur alle Bäume verloren, auch die
kleineren Pflanzen rundherum sterben, bis nichts mehr übrig ist.“
Der Text erschien zuerst im Online-Magazin [1][„Yale Environment 360“]
Übersetzung: Malte Kreutzfeldt, Alexander Wenzel
5 Jan 2018
## LINKS
[1] http://e360.yale.edu/
## AUTOREN
Alastair Bland
## TAGS
Ökosysteme
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Überwachung
Wale
Great Barrier Reef
Kohlendioxid
Meeresschutz
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