# taz.de -- Kolumne Fremd und befremdlich: Traditionen müssen sich ändern | |
> Das neue Jahr beginnt mit dem Dreck des Silvester-Mülls. Ich verstehe die | |
> Freude am Böllern. Aber wir könnten auch anders feiern. | |
Bild: Die Stadt als Müllhalde: Der hannoversche Maschsee am 1. Januar 2018 | |
Das neue Jahr beginnt, wie jedes neue Jahr, vor allem dreckig. Die Stadt | |
ist so dreckig wie nie. Die Stadt ist eine große Müllkippe. Das gilt für | |
Hamburg ebenso wie für Bremen und Kiel und für sicherlich jede norddeutsche | |
Kleinstadt, in der das Silvesterfeuerwerk noch nicht verboten worden ist. | |
Jedes Jahr, wenn ich am ersten Januar durch die Straßen spaziere, frage ich | |
mich, was das für ein Zeichen ist, was für ein Symbol für das neue Jahr, | |
dass es so dreckig anfängt, so müde und erschöpft, mit so vielen | |
Verletzten, mit Bränden und Zerstörungen und in Hamburg immerhin 126 | |
Anzeigen und 2.500 Polizeieinsätzen. | |
Aber es muss ja nicht alles ein Zeichen sein. Manche Sachen bedeuten | |
einfach nichts. Die Leute feiern. Es ist vielleicht auch eine Leere in | |
diesen Dingen, eine Bedeutungslosigkeit. Der Schmutz bedeutet ebensowenig | |
wie der Glanz. Es gehört alles zu den Dingen, die wir Traditionen nennen. | |
Traditionen: je länger wir sie uns unverändert erhalten, um so | |
sinnentleerter werden sie oft. | |
Ich merke das an mir selber. Dinge, die mir einmal wirklich Freude | |
bereitet, die mir Spaß gemacht haben, die machen mir heute keinen Spaß | |
mehr. Dafür machen mich andere Sachen glücklich, und darum müssen sich | |
meine privaten Traditionen ändern. Das ist die einzige logische Konsequenz. | |
Alles ändert sich. Alles muss sich ändern! Das ist das einzige Zeichen, die | |
einzige Bedeutung des Jahreswechsels, dass sich alles ändern muss, auch | |
unsere Traditionen müssen sich ändern. | |
Wenn ich zum Beispiel plötzlich einen Hund habe, dann zünde ich keine | |
Böller mehr. Wenn ich plötzlich kleine Kinder habe, betrinke ich mich nicht | |
mehr, ich ziehe nicht um die Häuser, ich verbringe die Nacht zu Hause. Wenn | |
ich jetzt in einem Reetdachhaus wohne, schieße ich keine Raketen mehr ab. | |
Und wenn ich aus einem Krieg fliehen musste, dann kann ich manchmal keinen | |
Spaß mehr haben am Zischen und am Knallen. | |
Wenn aber die Nachbarn den Hund haben, das kleine Kind, das Reetdachhaus | |
und das Trauma? Silvester, das bei 90 Prozent aller Kommentarkläuse immer | |
noch Sylvester heißt wie der Zeichentrickkater oder der Stallone, ist das | |
Fest, bei dem es einfach unmöglich scheint, die verschiedenen Rücksichten | |
aufeinander zu vereinen. Es scheint einfach nicht mehr möglich zu sein, | |
Rücksicht zu nehmen. Rücksicht ist nicht die Devise des neuen Jahres. Es | |
ist Jubel, es ist DIE TRADITION. Die unveränderte Tradition. | |
Ich verstehe schon die Freude, die ich in Teilen ebenso empfinde. Ich zünde | |
auch gerne etwas an und schieße etwas ab. Einen Knallbonbon, eine Rakete. | |
Ich sehe auch gerne den Zauber über der Stadt, die bunten Blumen in der | |
Nacht, den Glitzerregen, gebe mich kindlichen Illusionen von Schönheit hin. | |
Und ich verstehe sogar die Verschwendung. Wann jemals verschwenden die | |
Deutschen so wie an Silvester? Sie geizen doch eher, beim Leben und vor | |
allem beim Essen. Ist die Verschwendung nicht Ausdruck der Lebensfreude? | |
Ist sie also etwas Gutes? | |
Es steckt allerdings auch Aggressivität in all dem, es gibt Angriffe und | |
Rücksichtslosigkeiten, es gibt Verletzungen und Schmerzen. Es gibt vor | |
allem viel Leiden. Wie kann man sich dann aber freuen, wenn andere leiden? | |
Müssen wir in erster Linie die Menschen und auch die Tiere nicht | |
beschützen? | |
Es gibt ein paar ganz hübsche jüngere Traditionen im Norden. In Ellerhoop, | |
im Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein, lässt der Drachenclub | |
„Flattermann“ seine Drachen das neue Jahr begrüßen. | |
In Büsum im Kreis Dithmarschen haben sich 479 teils kostümierte Menschen in | |
die eiskalte Nordsee geworfen zum Neujahrs-Anbaden. Aber auch in | |
Niedersachsen, in diversen Orten an der Nordsee, auf Norderney, oder an der | |
Innerstetalsperre im Harz gab es ein Neujahrs-Anbaden. | |
In Misburg in Hannover zum Beispiel sprangen sie nackt ins Wasser des | |
Sonnensees. | |
Das ist natürlich alles nichts für Mitternacht. Aber es ist möglich, sich | |
ein anderes Feiern vorzustellen. Es ist möglich, sich neue Bräuche | |
anzuschaffen. Wie wir jetzt Silvester feiern, glaube ich, ist nicht mehr | |
richtig. | |
3 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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