# taz.de -- Debatte Abtreibung in Ost und West: Fahnen hoch und Hosen runter | |
> Der Bundestag beschloss 1992 eine Neuregelung des | |
> Schwangerschaftsabbruchs. Die DDR-Körperpolitik wird beim Thema nicht | |
> mitgedacht. | |
Bild: Gegen die Paragrafen 218 und 219 StGB: Sie beleidigen und kriminalisieren… | |
„Grenzenloses Unbehagen“ lautete damals das Motto der Demonstration. | |
Vertreterinnen von zwölf Parteien, Organisationen und Bürgerinitiativen | |
hatten zur „Demo gegen § 218“ aufgerufen, Treffpunkt sollte am 22. April | |
1990 vor der Ostberliner Volkskammer sein. Ihre Forderung hatten die Frauen | |
– es waren ausschließlich Frauen – in Großbuchstaben auf das Flugblatt | |
drucken lassen. „KEINE Einschränkung des RECHTS auf | |
SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH“. | |
Siebenundzwanzig Jahre ist das her. Ich war damals eine junge Frau und | |
schon Mutter. Die Vorstellung, der sich gerade zusammenruckelnde neue Staat | |
könnte sich in meine private Entscheidung für oder gegen ein Kind | |
einmischen, schien mir absurd. Das können die doch nicht machen, dachte | |
ich. Ein Kind zu bekommen oder es nicht zu bekommen, diese Entscheidung ist | |
schon schwierig genug, eine Abtreibung eine tiefe persönliche Krise. Da hat | |
sich der Staat nicht einzumischen. | |
In diesem aufregenden Umbruchjahr verstand ich zum ersten Mal, was die | |
Wiedervereinigung der zwei Deutschländer konkret für mich bedeuten würde. | |
Ich musste nicht mal umziehen – und trotzdem würden demnächst die Gesetze | |
eines anderen Landes für mich gelten. | |
Zwei Jahre darauf verabschiedete der gesamtdeutsche Bundestag tatsächlich | |
die Fristenregelung mit Beratungspflicht. Für die Frauen im Westen war das | |
ein Fortschritt, für Ostfrauen wie mich ein Verlust an Freiheit. Der | |
Paragraph 218 war für mich ein Übergriff des kapitalistischen Staates auf | |
etwas, das ihn verdammt noch mal nichts anging: meine körperliche und | |
seelische Selbstbestimmung. | |
Nach wie vor finde ich die Kriminalisierung von Frauen (ausschließlich von | |
Frauen), die sich für einen Abbruch entscheiden, grundfalsch. Und doch hat | |
die deutsch-deutsche Körperpolitik etwas in mir verändert. Sie hat ein | |
lange fälliges Nachdenken bewirkt. | |
## „Selbst entscheiden“ war das Zauberwort | |
Dort, wo ich aufgewachsen bin, galt das „Gesetz über die Unterbrechung der | |
Schwangerschaft“. Laut dem Gesetz mit dem im Grunde irreführenden Namen – | |
eine Schwangerschaft kann man nicht unter-, sondern nur abbrechen – durften | |
Frauen innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen frei über einen | |
Abbruch entscheiden. Keine Beratungspflicht, kein Reinreden, das Wort der | |
Betroffenen galt. Die Frau wurde in ihrer Entscheidung für voll genommen. | |
„Die Gleichberechtigung der Frau“, hieß es in der Präambel zu dem 1972 | |
verabschiedeten Gesetz, „erfordert, dass die Frau über die Schwangerschaft | |
und deren Austragung selbst entscheidet.“ „Selbst entscheiden“, das war d… | |
Zauberwort. | |
Heute bin ich Anfang fünfzig, mittlerweile gelernte Bundesbürgerin. Meine | |
Töchter sind im vereinigten Deutschland aufgewachsen, für sie gilt diese | |
Rechtslage: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe | |
bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, heißt es in Paragraf 218 | |
des Strafgesetzbuchs. Tatsächlich ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur | |
zwölften Woche zwar rechtswidrig, aber in der Regel straffrei. Die | |
Botschaft des Staates an ungewollt schwangere Frauen lautet also: Du | |
brichst unser Recht, aber wir gucken nicht so genau hin (doch sei dir nicht | |
sicher, dass das so bleibt). | |
Die Debatten, die sich nach wie vor an diesem Thema entzünden, sind mir | |
immer noch fremd. Letzter Ausschlag: Weil eine Frauenärztin auf ihrer | |
Website die Möglichkeit einer Abtreibung auch nur benannt hat, wurde sie | |
kürzlich [1][zu 6.000 Euro Geldstrafe verurteilt]. | |
Etwas auszusprechen, was Frauen zusteht, gilt hierzulande also schon als | |
Werbung. Das ist absurd. Es beleidigt und kriminalisiert die Ärztinnen und | |
Ärzte, die Frauen behandeln. Es spricht Paaren das Vermögen ab, mit einer | |
außerordentlichen Situation verantwortungsbewusst umzugehen. Und es | |
verschweigt konsequent die frühere Rechtspraxis im Osten dieses Landes. | |
## Andere moralische Grundhaltung | |
Dass sich die zu einende Bundesrepublik familienpolitisch an DDR-Standards | |
orientieren könnte, lag nach dem Mauerfall offenbar stets außerhalb | |
westdeutschen Vorstellungsvermögens. Warum eigentlich? Der | |
Einigungsvertrag sah lediglich eine zweijährige Frist bis zu einer | |
gesamtdeutsche Lösung vor. Im Juli 1992 beschloss also der Deutsche | |
Bundestag mit dem Schwangeren- und Familiengesetz die Neuregelung des | |
Schwangerschaftsabbruchs. Das bedeutete: Zwangsberatung für alle. | |
Die letzte DDR-Frauenministerin, die CDU-Politikerin Christa Schmidt, hat | |
Jahre nach dem Einigungsvertrag zu Protokoll gegeben, wie ihr in dem | |
turbulenten Wendejahr das Thema Abtreibung von Bonner Seite regelrecht | |
„aufgezwungen“ wurde. „Die BRD erfreute sich einer anderen moralischen | |
Grundhaltung“, schilderte Schmidt in einem Interview mit der Stiftung | |
Aufarbeitung. Die Politik habe versucht, „die Frauen über die moralische | |
Strecke zu erreichen. Die Medien haben sich in das Thema regelrecht | |
hineingestürzt, besonders die Männer. Das war widerlich.“ | |
Viele wissen, wovon Schmidt da spricht. Tatsächlich wurden – und werden – | |
Ostfrauen ungeniert und übergriffig von Westleuten ausgehorcht über das | |
damalige Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Motto: Wenn schon keine | |
Reise-, dann doch wenigstens reichlich Sexfreizügigkeit. | |
Unzerstörbar ist zum Beispiel die Legende, sämtliche Ostler hätten sich | |
nichts Schöneres als FKK vorstellen können. Leicht schwitzig auch die gern | |
erzählte Story, in der DDR sei irgendwann quasi jede mit jedem im Bett | |
gelandet. Und wie putzig waren doch die Ossis, die nach dem Mauerfall ihr | |
Begrüßungsgeld zu Beate Uhse trugen! Bis zur Mär von der leichtfertigen | |
Abtreibung ist es da nur noch ein kleiner Schritt. Die Bestrafung der Lust, | |
die Frau als skrupellose Mörderin – da blitzt deutlich mehr als nur ein | |
Rockzipfelchen verklemmter Sexualmoral hervor. | |
Mich hat das immer angeödet. Die Fragen nach der losen Ostmoral waren zu | |
offensichtlich vom Voyeurismus des Fragestellers befeuert. „Fahnen hoch und | |
Hosen runter“ – das war die Fantasie. Noch vor vier Jahren musste ich einem | |
bayerischen CSU-Gemeinderat beinahe den Sabber abwischen, als er sich nach | |
den Sitten und Gebräuchen der ostdeutschen Frauen erkundigte. Mit solchen | |
Gesprächspartnern möchte man nicht wirklich über die andere, die schattige | |
Seite des liberalen Abtreibungsrechts in der DDR sprechen. Also wirklich | |
nicht. | |
## Mitleidloser Umgang mit Schwangerschaft und Geburt | |
Denn tatsächlich verhält es sich so, dass die gesamtdeutsche Debatte, das | |
Wahrnehmen der Ostler als zeige- und fickfreudige Fremde, den Raum für das, | |
was auch ausgesprochen gehört, verschließt. Nämlich dass Abtreibung zu | |
DDR-Zeiten durchaus ein Mittel nachträglicher „Verhütung“ war. Dass Männ… | |
als unzuständig galten, und zwar sowohl was die Verhütung als auch was die | |
Entscheidung gegen ein Kind anging. Dass Kondom und Pille gerade von jungen | |
Frauen schon mal vernachlässigt wurden, schließlich konnte man die | |
Schwangerschaft unhinterfragt „wegmachen“ lassen. | |
Weil eine Debatte über werdendes Leben verpasst wurde, gab es in einigen | |
Krankenhäusern Abteilungen, wo ausschließlich Aborte vorgenommen wurden. In | |
dem Betrieb, in dem ich in den Achtzigern arbeitete, ließ eine Kollegin | |
eine Spätabtreibung vornehmen, weil der Ultraschall ergeben hatte, dass dem | |
Kind ein Unterarm fehlte. | |
Es sind traurige Geschichten, die von einem robusten, auch mitleidlosen | |
Umgang mit Schwangerschaft und Geburt – und letztlich auch mit sich selbst | |
– erzählen. Als 1982 in der DDR die Schriftstellerin Charlotte Worgitzky | |
„Meine ungeborenen Kinder“ veröffentlichte, wurde das in kleiner Auflage | |
gedruckte Buch von Hand zu Hand gereicht wie ein geheimes Tagebuch. | |
Das Nachdenken über die Frau als Nicht-Mutter, über das, was ihre | |
Entscheidung gegen ein Kind mit ihrer Seele macht, war zum subversiven Akt | |
geworden. Vielleicht ist es das, was man der DDR ankreiden kann: dass Ja | |
oder Nein möglich waren – aber nicht die öffentliche gesellschaftliche | |
Reflexion darüber. | |
Die heftigen Abtreibungsdebatten im später gesamtdeutschen Parlament haben | |
mich immer wieder daran erinnert, dass da bis heute etwas nicht | |
ausgesprochen, nicht aufgearbeitet wurde. Dass da auch Trauer sein könnte, | |
Bedauern. Der bis heute misstrauische und besserwisserische Blick auf die | |
Körperpolitik der untergegangenen DDR macht es schier unmöglich, darüber | |
offen zu sprechen. Aber nur eine solche Debatte kann gut sein, in der | |
Bedenken und Einwände nicht zwangsläufig mit Fühl- und Gewissenlosigkeit | |
gleichgesetzt werden. | |
## Das Thema Familie braucht Offenheit | |
Aber so läuft das nicht im wiedervereinigten Deutschland. Immer noch nicht. | |
Osten und Westen haben sich in ihren gut gepflegten Schützengräben | |
eingerichtet. Hier die dreifach belasteten Ostfrauen mit ihren getopften | |
Kindern. Dort die unselbstständigen Westfrauen mit ihren neurotischen | |
Ego-Shootern. | |
Über die gut gemeinte Absicht hinter der Beratungspflicht kann nicht | |
sprechen, wer keine Lust hat, gleich als Lebensschützerin etikettiert zu | |
werden. Der hohe Ton der Debatte führt zu Vorverurteilung und Misstrauen. | |
Um richtig verstanden zu werden: Der Paragraf 218 gehört abgeschafft. Ein | |
Gesetz, das eine so persönliche Entscheidung mit Strafe bedroht, ist ein | |
schlechtes Gesetz. Das Thema Familie braucht Offenheit, offene Debatte | |
zumal. Vielleicht wäre da immer noch etwas zu lernen aus den Erfahrungen | |
des Ostens: dass körperpolitische Freiheit tatsächlich nur wahrgenommen | |
werden kann in einem Klima der Offenheit auch für Seelisches. Das hat | |
damals gefehlt. Und es fehlt bis heute. So sollte es nicht länger bleiben. | |
15 Dec 2017 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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