# taz.de -- Gefährliche Implantate: Baustelle Vagina | |
> Ein Implantat soll Frauen bei Inkontinenz und Beckenbodenproblemen | |
> helfen. Doch Komplikationen führen oft zu unerträglichen Schmerzen. | |
Bild: Ella Ebaugh ist wegen ihrer zerstörten Harnröhre nun ans Badezimmer geb… | |
„Es schmerzt, wenn ich stehe, und es schmerzt, wenn ich sitze. Es fühlt | |
sich an, als würde ich brennen“, sagt die 51-jährige US-Amerikanerin Ella | |
Ebaugh gegenüber dem US-Sender CBS News. Die Ursache für diese Schmerzen | |
sind zwei Vaginalimplantate von Ethicon, einer Tochterfirma des | |
Pharmakonzerns Johnson & Johnson, die die fünffache Mutter zur Behandlung | |
von Inkontinenz im Jahr 2007 in den Beckenboden eingesetzt bekam. | |
Nach der Operation wanderten die Implantate in ihre Blase und zerstörten | |
ihre Harnröhre. Das umliegende Gewebe entzündete sich, Ebaugh litt an | |
Blasenkrämpfen und unerträglichen Schmerzen. Trotz drei Operationen konnten | |
die fehlerhaften Implantate nicht komplett entfernt werden, weil sie sich | |
im Lauf der Zeit in kleine Einzelteile aufgelöst hatten. Der | |
Zivilgerichtshof in Philadelphia sprach ihr im September 57 Millionen | |
Dollar Schmerzensgeld zu; die höchste Entschädigungszahlung, die es je in | |
seiner Rechtsprechung anwies. „Ich werde bis ans Ende meines Lebens | |
Schmerzen haben“, sagt Ebaugh. | |
Zehntausende Frauen weltweit leiden täglich unter unerträglichen Schmerzen | |
im Unterleib, weil ihnen fehlerhafte Vaginalimplantate verschiedener | |
Hersteller eingesetzt wurden. Mehr als 700 von ihnen haben sich in | |
Australien zu einer Sammelklage gegen Ethicon zusammengeschlossen. In den | |
USA summieren sich die Klagen bereits auf mehr als 100.000. | |
Die Implantate werden als Behandlungsmethode gegen Inkontinenz verwendet, | |
die zum Beispiel durch einen schwachen Blasenmuskel entstehen kann. Sie | |
sollen aber auch gegen eine Absenkung des Beckenbodens helfen, die bei bis | |
zu 50 Prozent der Frauen nach Geburten auftritt oder durch hormonelle | |
Veränderungen in der Menopause oder zu schwerem Heben hervorgerufen werden | |
können. In diesen Fällen können innere Organe wie Harnblase, Vagina, | |
Gebärmutter und Darm durch ein zu schwaches Muskelgewebe nach unten | |
absinken und wiederum zu Schmerzen und Inkontinenz führen. | |
## Chronische Schmerzen | |
Implantate wie die von Ethicon und anderen Herstellern sollen das | |
verhindern. Sie bestehen aus Plastiknetzen, die wie Hängematten an | |
verschiedenen Stellen in die Beckenbodenmuskulatur eingefügt werden und sie | |
so stabilisieren sollen. Während die Operationen bei reiner Inkontinenz | |
häufig erfolgreich verlaufen und auch in der Folgezeit selten | |
Komplikationen auftreten, kommt es nach Operationen wegen eines abgesenkten | |
Beckenbodens immer wieder zu Schwierigkeiten: Es entstehen Entzündungen, | |
die Netze perforieren die umliegenden Organe oder lösen sich auf und ihre | |
Partikel verteilen sich im Gewebe. | |
Die Folgen sind chronische Schmerzen im Unterleib, die in Beine und Rücken | |
ausstrahlen: Die Patientinnen können zeitweise nicht laufen, nur noch für | |
kurze Zeitspannen sitzen, haben Probleme beim Urinieren oder leiden an | |
Inkontinenz und haben Schmerzen beim Sex. Die US-amerikanische Behörde für | |
Lebens- und Arzneimittel verzeichnete zwischen 2008 und 2010 drei | |
Todesfälle, die in Zusammenhang mit den Implantaten standen. | |
Die Hersteller hätten die Implantate nicht ausreichend getestet, bevor sie | |
auf den Markt kamen, klagen die Betroffenen. Führende Mitarbeiter sollen | |
versucht haben, die Veröffentlichung von unvorteilhaften Daten über das | |
Produkt zu verhindern, um es schneller als die Konkurrenz auf den Markt | |
bringen zu können. Das belegen dem Guardian zufolge E-Mail-Dokumente aus | |
Ella Ebaughs Prozess. | |
In einer solchen E-Mail sucht ein behandelnder Arzt Rat für eine Patientin, | |
der das Implantat zwei Zentimeter weit durch die Vaginalwand gewachsen ist. | |
Ihr Mann erklärt, Sex mit ihr fühle sich an, als würde er „eine Drahtbürs… | |
ficken“. Der medizinische Direktor von Ethicon antwortet, dass er den Fall | |
nicht kommentieren könne; er habe „das Ding mit der Drahtbürste“ nie | |
ausprobiert. | |
## Schnelles Geld | |
Ethicon verkaufte den Ärzt_innen die Implantate als schnelle und | |
profitträchtige Behandlungsmethode. Im Zuge des australischen | |
Gerichtsprozesses gelangte ein Marketing-Skript der Firma an die | |
Öffentlichkeit. Mit dem Implantat seien vier Operationen und 10.000 Dollar | |
Verdienst noch vor dem Mittagessen möglich, weil es in nur acht Minuten | |
eingesetzt werden könne, warb die Firma darin. Im Skript prahlt ein | |
erfolgreicher Mediziner vor seinen Kolleg_innen mit einem Skiaufenthalt in | |
Aspen und einem neuen Lamborghini – alles dank des Implantats. | |
Aber auch Ärzt_innen nahmen die Beschwerden der Patientinnen nicht ernst | |
oder stilisierten sie zu Absurditäten. Der australische Rundfunksender ABC | |
News dokumentierte auf seiner Webseite den E-Mail-Verkehr französischer | |
Gynäkolog_innen, den die Anwält_innen bei der Eröffnung des australischen | |
Prozesses präsentierten: Als Alternative zu schmerzhaftem Vaginalsex nach | |
den Operationen empfahl ein Arzt den Patientinnen den Wechsel zu | |
Analverkehr. Ein weiterer echauffierte sich, dass die Berücksichtigung der | |
Operationsfolgen auf den Sex dazu führen würde, dass er mit den | |
Patientinnen über Orgasmen, Fellatio und den G-Punkt sprechen müsse, nur um | |
am Ende als Sexsüchtiger dazustehen. | |
Zehntausende Frauen haben in Einzel- und Sammelklagen gegen die Hersteller | |
der Implantate Abfindungen in Millionenhöhe erhalten oder in Vergleiche | |
eingewilligt. Die Gesamtsumme der Zahlungen beläuft sich auf über eine | |
Milliarde Dollar. Bereits 2012 erklärte das US-Gesundheitsministerium die | |
Netze zu hochriskanten Produkten. Manche von ihnen wurden vom Markt | |
genommen, sie werden aber generell weiterhin verwendet. | |
Auch in Deutschland verwenden Ärzt_innen die Netze. Es seien sogar mehr | |
Modelle zugelassen als in den USA, weil die Prüfungsvorgaben für | |
Medizinprodukte weniger streng seien, sagt Ursula Peschers, Vorsitzende der | |
Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie der Deutschen Gesellschaft für | |
Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). „Wir sehen die Risiken der Implantate | |
auch, aber in manchen Fällen brauchen wir sie, weil keine andere | |
Behandlungsmethode erfolgversprechend ist“, sagt Peschers. | |
## In Deutschland klagt kaum jemand | |
Bevor sie auf die Netze zurückgreife, biete sie immer alternative | |
Behandlungsmethoden wie Operationen ohne Implantate an und informiere über | |
die Möglichkeit von Komplikationen. Letztlich sei es aber die Entscheidung | |
der Patientin, ob sie mit der Beckenbodensenkung leben könne oder die | |
Risiken der Operation auf sich nehme. Offizielle Statistiken zur Häufigkeit | |
der Verwendung und den Folgen in Deutschland gebe es nicht; die meisten | |
Studien seien durch Hersteller finanziert und deshalb nur eingeschränkt | |
objektiv. | |
Auch Kaven Baeßler vom Franziskus-Klinikum in Berlin verweist auf die | |
problematische Situation in Deutschland. Zwar habe sich die Qualität der | |
Netze verbessert, trotzdem könne es nach wie vor zu Komplikationen kommen. | |
In Deutschland würde allerdings kaum eine Frau wegen der Folgen klagen – | |
die Entschädigungszahlungen seien so gering, dass der Aufwand sich nicht | |
lohne. Baeßler hat federführend die medizinische Leitlinie der DGGG zur | |
Diagnose und Therapie von Beckenbodensenkungen herausgegeben. „Es ist | |
wichtig, Frauen bei Komplikationen nicht alleinzulassen und ihnen eine gute | |
Betreuung anzubieten“, sagt sie. In den USA sei es häufig zu Klagen | |
gekommen, weil die Ärzt_innen ihre Patientinnen bei Problemen nach den | |
Operationen abgewiesen und die Probleme verleugnet hätten. | |
Viele Ärzt_innen empfehlen Schwangeren, den Beckenboden vor der Geburt zu | |
trainieren, um die Gefahr einer Absenkung zu reduzieren. Ausgeschlossen | |
werden kann diese dadurch aber nicht. Komme es zur Senkung, könne ein | |
Muskeltraining zwar Symptome wie Inkontinenz lindern, den Vorgang aber | |
nicht rückgängig machen, sagt Baeßler. | |
Ella Ebaugh arbeitete früher in einem Restaurant und reiste mit ihrem | |
Softball-Team durchs Land. Wegen ihrer zerstörten Harnröhre sei sie nun ans | |
Badezimmer gefesselt, sagte sie der News-Plattform York Daily Record. Sie | |
trägt Windeln und kann keinen Sex mehr haben. Ethicon will die | |
Entschädigung, die das Gericht ihr zusprach, anfechten. „Wir glauben, dass | |
unsere Produkte korrekt hergestellt wurden. Ethicon handelte angemessen und | |
verantwortungsvoll in der Forschung, Entwicklung und im Vertrieb des | |
Produkts“, sagt Kristen Wallace, eine Pressesprecherin der Firma. | |
10 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Zoe Sona | |
## TAGS | |
Implantate | |
Vagina | |
Frauenkörper | |
Medizintechnik | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Leer | |
Vagina | |
Sexualität | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fehlerhafte Plastikimplantate: Chefarzt unter Verdacht | |
Am Klinikum Leer soll der ehemaligen Chefarzt der Wirbelsäulenchirurgie | |
fehlerhafte Implantate eingesetzt und dafür Geld kassiert haben. | |
Chirurgische Veränderung der Intimzone: Der Trend zur Designervagina | |
Genital-OPs haben Konjunktur. Sie zeigen die Macht der Schönheitsnormen, | |
haben manchmal aber auch gesundheitliche Gründe. | |
EGMR-Urteil zu Sex und Frauen über 50: Heiße Mütter wollen dich | |
Wann hört der Sex auf? Richter in Portugal fanden: Bei Frauen im Alter von | |
50. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt: nie. Recht so. |