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# taz.de -- Jubiläum Kreuzberger Tanzschule: Die Führenden und die Folgenden
> Nach Feierabend brummt es in der Tanzschule Ballhaus
> Walzerlinksgestrickt. Seit 20 Jahren bringt sie die unterschiedlichsten
> Paare zum Tanzen.
Bild: Im Ballhaus Walzerlinksgestrickt, beim Üben und Vergnügen
Ein Motiv, mit Mitte fünfzig eine Tanzschule zu besuchen, oder besser, eine
Legitimation für das Vergnügen, war die Behauptung: Tanzschritte lernen
stützt das Erinnerungsvermögen. Fein, dachte ich mir im Anfängerkurs, die
Grundschritte waren noch leicht zu merken. Aber kaum sind wir
fortgeschritten, haben im Langsamen Walzer noch die Linksdrehung und den
Zögerwechsel gelernt, in der Rumba die Figur sweetheart, packt die Gruppe
die schiere Verzweiflung.
Wisst ihr noch, was wir letzte Woche gelernt haben, fragen sich kurz nach
der Begrüßung viele der Teilnehmenden. Wir schauen unsere Füße an, wir
sagen die Namen von Figuren auf, wie die Schrittkombinationen genannt
werden, aber noch finden Hirn und Körper nicht zusammen.
„Macht euch nichts draus, dafür bin ich ja da“, tröstet Gert, der
Tanzlehrer, dem wir jetzt schon seit mehr als fünf Jahren folgen und wischt
die kollektiven Seufzer beiseite. Es ist äußerst beruhigend, wie er schaut,
was wir können und die Stunde dem anpasst. Sodass irgendwann fast jedesmal
das Vergnügen einsetzt zu spüren, wie die Füße den Weg schon finden und den
Körper nach rechts und links tragen, in die Beschleunigung, um die Kurve,
wunderbar.
„Wir haben den Rhythmus im Blut“, so wirbt die Tanzschule Ballhaus
Walzerlinksgestrickt. Und ja, weil viele sich wünschen, dass auch von sich
behaupten zu können, ist die Tanzschule sehr beliebt. Sie feiert in diesem
November mit einer Gala (am 18. November) ihr 20jähriges Bestehen in den
Sälen der früheren Habelschen Bierbrauerei auf dem Tempelhofer Berg.
## Befreiung aus der Konvention
Die Karten dafür wurden schließlich verlost, im dritten Anlauf. Im ersten
Versuch, als man sie noch bestellen konnte, hatten einige Ballhausfans
gleich für große Gruppen von 20 Leuten gebucht. Weil die Gründer aber eine
Mischung von ehemaligen und aktuellen Kursteilnehmern wollten, kamen sie
schließlich auf die Idee der Verlosung.
Die Gründer, das sind Ulrike Albrecht-Balzer und Jojakim Balzer. Ulrike ist
die große Zeremonienmeisterin des Hauses, begrüßt die Kursteilnehmer wie
Gäste und alte Freunde mit einem strahlenden Lächeln. Vor etwas mehr als 20
Jahren, da war er noch hauptberuflich mit Jura beschäftigt und sie als
Physiotherapeutin unterwegs, ist bei beiden allmählich die Idee einer
eigenen Tanzschule entstanden.
Beide waren in den 1980er Jahren nach Berlin gekommen, sie aus Freiburg, er
aus Kiel, beide besuchten das SO 36 und die Tanzschule Bebop. Diese
Kreuzberger Adressen boten eine alternative Bühne für Standard Tänze
(Wiener und Langsamer Walzer, Tango, Slowfox) und Latein ( Cha Cha Cha,
Rumba, Samba), die sich bewusst abgrenzte von dem Mief der Benimm-Regeln
und klassichen Geschlechterrollen an den Tanzschulen alten Stils.
Es war oft eine schwul-lesbische Szene, die die Tänze aus ihrer
konventionellen Ecke herausholte, aus dem Tanzstunden-Milieu von
Abiturienten und der peinlichen Suche nach einem Tanzpartner, aus dem
Geruch von ADAC-Bällen und dem Zement-Lächeln der Turnier-Tänzer. Führen
und Folgen beim Tanzen schien auf einmal nicht mehr festgeschrieben auf die
Rollen von Mann und Frau.
In den siebziger Jahren, mit den breiten Angebot an Disco, wäre ich zum
Beispiel nie auf die Idee gekommen, Standard-Tänze lernen zu wollen,
schienen sie doch Form gewordene traditionelle Rollenbilder. Aber das hat
sich seit den 1980er Jahren verändert. Im Walzerlinksgestrickt redet man
deshalb auch stets nur von den Führenden und den Folgenden, nicht von
Frauen und Männern.
Ulrike und Jojakim hatten Mitte der 1990 zunächst eine „fliegende
Tanzschule“. Sie unterrichtete Frauen, die mit Frauen tanzten, er
Männerpaare, in wechselnden Räumen. Dann gab es schwullesbische Tanzabende
am Freitag jede Woche, Samstags für Heteros. Heute ist das Publikum eine
sehr entspannte Mischung.
## Zuschuss der Großmutter
1997 ist zum Stichjahr in der Geschichte des Ballhaus Walzerlinksgestrickt
geworden, weil Ulrike und Jojakim damals einen Existenzgründer-Wettbewarb
gewannen und damit – und mit einem Zuschuss von Jojakims Großmutter – die
Mittel erhielten, das seit 1960 leerstehende Brauhaus in eine Tanzschule
umzubauen. Auch mit sehr viel Eigenarbeit.
Vor 100 Jahren, da war Berlin eine Stadt voller Ballhäuser, manchmal
existieren die Räume noch – mit anderer Funktion – oft kann man nur noch
darüber lesen. Ulrike weiß viel über die verlorene Ballhauskultur, daran
wieder anzuknüpfen, das war schon ein Traum von ihr, den sie sich nicht nur
mit der Tanzschule, sondern auch als Organisatorin von Bällen verwirklicht
hat. Die hohen Räume im ehemaligen Sudhaus der Brauerei, die schönen
Kappendecken und Bogenfenster boten dazu schon mal eine gute Voraussetzung.
Der letzte von mittlerweile 4 Tanzsälen wurde vor zwei Jahren angebaut, nur
durch eine Glaswand von großen Saal getrennt. Es macht Spaß, zwischen dem
Lernen von Rumba und Slowfox hinüberzuschielen, wie die anderen sich drehen
und mühen. Derzeit unterrichten 15 TanzlehrerInnen am Ballhaus, ungefähr
1000 Lernwillige kommen nach Feierabend jede Woche hierher, um Beinen und
Hüfte mal was Neues beizubringen.
## social dance aus England
In London und New York haben Ulrike und Jojakim sich fortgebildet und
recherchiert, wie das Unterrichten von Tanz für Erwachsene am besten geht.
In New York packte sie der Salsa, die enge Verbundenheit von Bands und
Tänzern, die sich gegenseitig inspirieren. In England lernten sie viel:
Dort gibt es eine größere social dance tradition und ein ausgebautes
Wissen, wie man Bewegungen und Schrittfolgen aufschlüsselt, in kleine
Bausteine zerlegt, stets die Überforderung der Lernenden vermeidend. Die
Lust an der Bewegung stets im Auge zu behalten, das gilt als das
Wichtigste. Die Lehrenden der Schule tauschen sich regelmäßig auf einer
Tanzlehrer-Konferenz aus.
Auch der Humor scheint ein bisschen britisch, mit dem man den Tanzenden auf
die Sprünge hilft. „Auch wenn ihr zwei linke Füße habt: Benutzt trotzdem
einen nach dem anderen!“ ist ein O-Ton der Schrittvermittler, festgehalten
in einer Festschrift zum Jubiläum.
Als Erich und ich vor mehr als fünf Jahren hier anfingen, war ich anfangs,
wie nicht wenige Frauen, überzeugt, besser tanzen zu können als er, mir
schneller Schrittfolgen zu merken. Ungeduld mit dem Tanzpartner, Ärger über
die Abhängigkeit vom anderen, die Lehrenden haben ständig damit zu tun. Es
ist raffiniert und liebevoll, wie sie dem die Spitze nehmen und vermitteln.
## Das wahre Tänzer-Ich
Unser Tanzlehrer Gert zum Beispiel wirft nie jemanden einen Fehler vor. Er
erzählt dann nur gerne von beobachteten Paaren in anderen Kursen, wie da X
überzeugt ist, nur von Y am Ausbruch ihres wahren Tänzer-Ichs gehindert zu
werden. Man lacht und ahnt schon, in welchem Teil der Geschichte man sich
unauffällig selbst erkennen kann.
Bei mir und meinem Führenden ist es inzwischen so, dass mir in seinem Arm
viel mehr vom Tanz wieder einfällt, als ohne ihn. Das sind kleine
Glücksmomente, ein Anfang vom Gefühl des Schwebens, plötzlich mehr zu
können, als einem selbst bewusst ist. „Die Führenden haben die Aufgabe, die
Folgenden gut aussehen zu lassen. Und umgekehrt.“ Das ist so eine der
leicht ironischen Weisheiten, die man hier lernt.
11 Nov 2017
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Tanzen
Berlin-Kreuzberg
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