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# taz.de -- Performance-Festival Spielart in München: In die Voyeursrolle gezw…
> Drittes Geschlecht, Geschichtsnachhilfe, dampfende Körper: Aber leider
> fehlte den tollen Themen oft die vertiefende Dramaturgie.
Bild: Das Stück „MDLSX“ der Gruppe Motus handelt vom dritten Geschlecht
Herzzerreißend war das Schlussbild eines Stücks der Gruppe Motus, das gegen
Ende des Festivals Spielart in München lief. Im Leinwand-Bullauge, auf dem
Silvia Calderonis Kindheit in Filmauszügen Revue passiert, tanzt ihr Vater
mit einem linkischen Teenager durch ein biederes italienisches
70er-Jahre-Wohnzimmer. Und das Kind ist nicht mehr das Mädchen, als das es
die ersten 14 Lebensjahre erschien, sondern ein Hermaphrodit, ein Wesen
zwischen zwei Geschlechtern – oder ein „Monster“, wie es Calderoni selbst
1974 aus einem zerlesenen Lexikon entgegenschrie. Und nichts könnte egaler
sein in diesem innigen Moment des Tanzes.
Nun ist die Produktion „MDLSX“ des Künstler*innenkollektivs Motus aus
Rimini in Italien wahrlich keine Entdeckung, wenn auch am Tag des
Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Anerkennung eines dritten Geschlechts
erstaunlich aktuell platziert. Die radikal persönliche Produktion gab schon
so manchem Tanz- und Theaterfestival-Einheitsbrei Geschmack – und zeigte
beim Münchner Spielart deutlich auf, was vielen der hier sonst eingeladenen
Arbeiten fehlt: Schonungslose Selbstentblößung ist es nicht. Aber eine
Dramaturgie, die ein Thema kontinuierlich vertieft, fehlte vielfach bei den
auf 16 volle Tage verteilten, schwerpunktmäßig aus (Süd-)Afrika und
Südostasien stammenden Performances, die wahlweise auf diskursive
Geschichtsnachhilfe oder den aufgeladenen Moment und dampfende
Körperlichkeit setzten.
In „Sorry For The Interruption“ rannten Mallika Taneja aus Delhi und ihr
Schauspielerkollege „Shubham“ 40 Minuten mit durchaus interessanten
Richtungs- und Tempoverschiebungen auf der Stelle, um dann rat- und atemlos
nebeneinander zur Ruhe zu kommen. Ob das den Leerlauf in der heutigen
(indischen) Leistungsgesellschaft meint oder die Kommunikationsunfähigkeit
zwischen Mann und Frau, blieb offen. Viele Aufführungen waren vorbei, bevor
es richtig interessant hätte werden können. Und auch der
südafrikanisch-palästinensische Dialog „Let’s Talk About Sex: The Beginni…
of War“ stiehlt sich am Ende aus der Affäre, indem Chuma Sopotela die
Zuschauer auf der intimen Bühne des HochX zum Umtrunk einlädt.
Aber der Reihe nach: In einem weißen Bettdeckenbezug bilden zwei
menschliche Körper rätselhafte Figuren; und schließlich stülpt sich ein
Kopf heraus, der einigermaßen verwundert in das zikadensirrende Dunkel
schaut. So ähnlich könnte ein Stück für Kinder beginnen – und wie Kinder
ziehen sich die Performer auch im Schutz des Stoffes an, um sich sehr bald
als Sparringpartner gegenüberzustehen: Sopotela, die tags zuvor in einem
Münchner Einkaufszentrum von Medien, Pop- und Rapkultur verbreitete
Weiblichkeitsklischees performte, und Ahmed Tobasi, der wegen bewaffneten
Kampfes für die Palästinensersache mehrere Jahre im Gefängnis war, ringen
buchstäblich miteinander.
Doch bald wird er ein bisschen wütend: Keine Fotos!, sagt er. Hier in
Europa würde man das, was er hier tue, zwar für Theater halten, zu Hause
aber reichte es für ein Todesurteil. Dass die beiden dann doch noch auf Sex
zu sprechen kommen, liegt vor allem an ihr. Sie zwingt Ahmed in die Rolle
des südafrikanischen Präsidenten Zuma und lässt ihn als „Speer der Nation�…
Kondome in drei Geschmacksrichtungen ans Volk verschenken.
## Reproduzieren statt anprangern
Es ist alles andere als ein konsistenter Abend, den sich die beiden hier
zusammengebastelt haben. Er kann im beckenbetonten gemeinsamen Tanz schwer
Abstand zu ihr halten, sie erzählt von viel zu großen und viel zu kleinen
Schwänzen (er zweifelt, dass die kleinen schwarz waren) und davon, dass sie
sich beim Sex mit einem italienischen Freund plötzlich wie eine Sklavin
fühlte.
Sie leckt mit einer unnachahmlich schmutzigen Lache Sprühsahne von einem
Dildo (und er ekelt sich). Sie lässt ein Banananröckchen um ihre bloßen
Hüften schaukeln wie weiland Josephine Baker. Und um der Ikonografie
vollends Genüge zu tun, zieht sie auch noch den BH aus. Ihm tut es weh, sie
so zu sehen. Einer Zuschauerin auch. Er hält aber auch einen ganz schön
langen Macho-Monolog über einen von israelischen Soldaten beklatschten
Koitus an der Mauer (zwischen Israel und dem Westjordanland).
Der Abend ist sympathisch durch seine Unbekümmertheit und den Spaß, den
seine Akteure bei der Arbeit haben, tippt einige Probleme der
interkulturellen Kommunikation im Vorbeigehen an und lässt zum wiederholten
Male bei diesem Festival die Frage unbeantwortet im Raum stehen, ob es
genügt, sexistische und rassistische Stereotype zu reproduzieren, die man
doch eigentlich anprangern will. Auch wenn man es darf, weil man Frau
und/oder schwarz ist.
Nora Chipaumire aus Simbabwe ist beides. Und sie stellte mit zwei
männlichen Ko-Performern in „Portrait of Myself as My Father“ den
männlichen schwarzen Körper als raumgreifende, animalische Sex- und
Kampfmaschine dar, freilich in irgendwie kritischem Rekurs auf den
(post)kolonialen Blick, der „den schwarzen Mann“ erst konstruiert. Bloß
dass nähere Erklärungen dazu im ohrenbetäubenden Elektrogewummere leider
rückstandslos untergingen.
Dass man sich als privilegierter, allenfalls halbgebildeter Europäer im
Theater auch mal blöd und hilflos vorkommt, geht vollkommen in Ordnung.
Dass man aber mangels verbaler Verständlichkeit und nützlicher
Zusatzinformationen allzu oft in der Voyeursrolle zu bleiben gezwungen ist,
kann nicht ernsthaft gewollt sein.
10 Nov 2017
## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
Performance
Sex
Afrika
Südostasien
Black Lives Matter
Soziale Netzwerke
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