# taz.de -- Flucht mit Behinderung: Eine fast heile Welt | |
> Die A.s wurden mit zwei schwerbehinderten Töchtern aus Berlin | |
> abgeschoben. Nun sind die Tschetschenen zurück – und scheinbar in | |
> Sicherheit. | |
Bild: Aufgrund der Behinderung der jüngsten Tochter dürfen A.s nun in Berlin … | |
Die siebenjährigen Zwillinge Marha und Ramzan sitzen am Tisch und malen. Im | |
Fernsehen läuft der Kinderkanal. Vater Apti A. ölt den Rollstuhl von | |
Tochter Marha. Die Mutter bereitet in der Küche das Essen vor. Die | |
fünfjährige Tochter Samira schläft im Kinderzimmer. Sie hat einen | |
anstrengenden Tag in der Charité hinter sich. | |
Es ist dieses kleine Stück Normalität für seine Familie, um das der | |
tschetschenische Flüchtling Apti A. seit Jahren kämpft. Nach fünf Jahren | |
hat der gelernte Lkw-Mechaniker den Kampf nun endlich gewonnen. Das steht | |
in einem Schreiben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), | |
das ihm seine Anwältin vor einigen Tagen zugeschickt hat: Das Amt hat ein | |
Abschiebeverbot für die schwerstbehinderte Tochter Samira ausgesprochen. | |
Auch die Eltern und Geschwister dürfen damit in Deutschland bleiben. | |
Samiras Behindertenausweis belegt eine hundertprozentige Behinderung. Das | |
Kind kam mit einem Wasserkopf zur Welt. Ihr Überleben stand mehrfach auf | |
der Kippe. Sie wird nie sprechen können. Auch die siebenjährige Marha ist | |
behindert. Das fröhliche Mädchen mit dem Pferdeschwanz ist spastisch | |
gelähmt. Laufen kann sie nur an der Hand der Eltern, allein krabbelt sie | |
durch die Wohnung. Sie spricht eine Fantasiesprache, versteht aber ein | |
wenig Russisch und Deutsch. Ihr gesunder Zwillingsbruder, der diesen Sommer | |
eingeschult wurde, spricht beide Sprachen. | |
## Keine ausreichende medizinische Versorgung | |
Bevor Familie A. Anfang 2012 Tschetschenien verließ, wurden beide Eltern | |
schwer gefoltert, der Bruder von Apti A. getötet. Erste Fluchtstation war | |
Polen, wo die kleine Samira zur Welt kam. Apti A. erklärt die Behinderungen | |
der Kinder mit der Folter in Tschetschenien. Eine angemessene medizinische | |
Versorgung für die Kinder gab es in Polen nicht. So fuhr Familie A. weiter | |
nach Deutschland. | |
Als die taz die Familie 2013 kennenlernte, lebte die A.s in einer | |
Notunterkunft in einer ehemaligen Schule in Moabit. Sie bewohnten gemeinsam | |
mit weiteren Männern einen Klassenraum. Nur mit Stoffdecken waren die | |
Schlafbereiche der Familie von denen der fremden Männer getrennt. | |
## Kein Deutschunterricht | |
Die Kinder wurden zwar in der Charité erstklassig medizinisch versorgt. | |
Doch die Eltern hatten in der früheren Schule keine Möglichkeit, die | |
schwerstbehinderten Töchter zu baden oder ihre Motorik zu fördern. Dem | |
gesunden Jungen fehlte der Platz zum Toben. Familie A. konnte wenig später | |
in eine Unterkunft für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge und danach in | |
eine eigene Wohnung umziehen. An eine Integration der Eltern war aber nicht | |
zu denken. 2013 hatten Flüchtlinge ohne abgeschlossenes Asylverfahren noch | |
keine Chance, Deutschkurse zu besuchen. | |
15 Monate nach ihrer Einreise nach Deutschland, im Februar 2014, wurde | |
Familie A. nach Polen zurückgeschoben. So wollte es die Dublin-Verordnung. | |
Polen war der Schengen-Staat, den Familie A. auf der Flucht als ersten | |
betreten hatte. Die Polizei hatte zweimal zur Abschiebung kommen müssen. | |
Beim ersten Mal hatten sich die Polizeibeamten angesichts der kranken | |
Kinder geweigert, sie mitzunehmen. | |
## Gericht: Rückführung zulässig | |
Ein Verwaltungsgericht hatte aber in einem Eilverfahren die Rückführung für | |
zulässig befunden. In Polen würden keine systematischen Mängel im | |
Asylverfahren bestehen und die medizinische Behandlung der Kinder sei | |
gesichert, hieß es damals. | |
Als die taz die Familie kurz darauf in der Nähe von Warschau [1][besuchte], | |
stellte sich das allerdings anders dar. Es gab lediglich eine medizinische | |
Notversorgung. Aber die in Deutschland begonnene medikamentöse Behandlung | |
und die Physiotherapie der behinderten Kinder wurden in Polen nicht | |
fortgesetzt. Tochter Samira erhielt auch nicht das Titan-Ventil, das das | |
überschüssige Hirnwasser aus dem Kopf des Kindes ableitet und das ihr in | |
Berlin das Leben gerettet hatte. Die Eltern waren in ständiger Sorge um das | |
Leben ihrer Jüngsten. Marha war in der Charité auf eine Operation | |
vorbereitet worden, um einmal laufen zu können. In Polen gab es keine | |
solche Operation. | |
Im Sommer 2014 besuchte der damalige Berliner Piraten-Abgeordnete Fabio | |
Reinhardt gemeinsam mit polnischen Piraten die Familie. „Die medizinische | |
Versorgung war völlig unzureichend“, erinnert sich Reinhardt heute. Als die | |
jüngste Tochter ins Krankenhaus musste, habe der Vater dort selbst für Brei | |
und Windeln sorgen müssen: „Er musste darum ständig bei ihr sein.“ | |
Und es tauchte ein neues Problem auf: Der Familie drohte die Abschiebung | |
nach Russland. Fabio Reinhardt: „Herr A. sah, wie seine Mitbewohner dorthin | |
gebracht wurden, dass sich russische Spitzel bereits im Lager aufhielten. | |
Die polnischen Piraten bestätigten das Problem und schrieben an die | |
polnischen Behörden.“ | |
## Gericht: Rückführung unzulässig | |
Anfang 2015 hörte Fabio Reinhardt wieder von der Familie. Herr A. rief ihn | |
aus Berlin an, wohin er zurückgekehrt war. Auf eigene Faust und aus purer | |
Verzweiflung. Zugute kam ihm, dass das Verwaltungsgericht inzwischen nicht | |
nur im Eilverfahren, sondern im regulären Klageverfahren über die | |
Rückführung nach Polen entschieden hatte, und das diesmal zu ihrem Gunsten: | |
Die Rückführung vor einem Jahr wurde im Nachhinein für rechtswidrig | |
erklärt. Sonja Benning, die Anwältin der Familie, hatte nun allerdings | |
Probleme, das eigentliche Asylverfahren in Deutschland zu betreiben. „Die | |
Familie hatte ja bereits in Polen Asyl beantragt.“ Und dort war das | |
Verfahren wegen Abwesenheit der Familie eingestellt worden. Familie A. war | |
in einen Strudel geraten zwischen sich widersprechenden Gerichtsbeschlüssen | |
und unterschiedlichen Zuständigkeiten. | |
Auch ihre Lebenssituation in Berlin war schwierig. 2015 war das Jahr, in | |
dem besonders viele Flüchtlinge nach Berlin kamen und Unterkünfte fehlten. | |
Mehrfach musste die Familie von einem Ende der Stadt ans andere ziehen. | |
Apti A. erzählt von einem Hostel in Wilmersdorf, wo sie einige Zeit in | |
einem einzigen Zimmer ohne Kochmöglichkeit und ohne Verpflegung hausen | |
mussten. „Essen mussten wir am Imbiss kaufen.“ | |
Danach ging es nach Neukölln, von dort nach Reinickendorf und schließlich | |
vor einem Jahr in eine eigene Wohnung in Spandau. Erst seit er hier wohnt, | |
vier Jahre nach seiner Flucht aus Tschetschenien, kann so etwas wie | |
Integration beginnen. Der Familienvater lernt Deutsch und kann sich | |
inzwischen ganz gut verständigen. Wenn er den Kurs beendet hat, will seine | |
Frau die Sprache lernen. Ein Elternteil muss ständig bei der schwer kranken | |
Samira bleiben. | |
## Fauler, aber guter Deal | |
„Mit dem Bundesamt haben wir einen Vergleich abschließen können“, sagt | |
Anwältin Benning. Der lautet: „Es gab den Abschiebeschutz für die jüngste | |
Tochter unter der Bedingung, dass wir das Asylverfahren nicht weiter | |
betreiben.“ Aus Sicht der Anwältin ist das zwar ein „fauler Deal“, aber | |
dennoch einer, den sie nicht ablehnen wollte. Denn: „Meinen Mandanten | |
bringt das endlich Sicherheit.“ | |
Die siebenjährige Marha hätte mit der Aufenthaltserlaubnis Anspruch auf | |
eine bessere Förderung in der Schule. Doch bis es so weit ist, wird wohl | |
noch etwas mehr Zeit vergehen. Denn die Berliner Ausländerbehörde braucht | |
viele Monate, bis sie anspruchsberechtigten Flüchtlingen eine | |
Aufenthaltserlaubnis ausstellt. | |
19 Oct 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Fluechtlinge-aus-Berlin-abgeschoben/!5048121 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
## TAGS | |
Flüchtlinge | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) | |
UN-Behindertenrechtskonvention | |
Kika | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Flüchtlinge | |
Flüchtlinge | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Weltgipfel für Menschen mit Behinderung: Entwicklungszusammenarbeit braucht In… | |
Am Mittwoch beginnt der Global Disability Summit. Im Fokus steht die | |
Entwicklungszusammenarbeit, in der Behinderung noch immer nicht bedacht | |
werde. | |
Umstrittene Kika-Dokumentation: Sinnliche Aufklärung | |
Eine Dokumentation im Kinderkanal sorgt für Empörung unter Rechten. Es muss | |
ein Horror sein, denn es geht um die Liebe. | |
Von Leipzig/Halle nach Afghanistan: Abschiebung vorerst ausgesetzt | |
Der Angehörige einer bedrohten Minderheit, der am Dienstagabend nach | |
Afghanistan abgeschoben werden sollte, wird vielleicht verschont. | |
Umgang mit behinderten Flüchtlingen: Doppelt schutzlos | |
Flüchtlingskinder mit Behinderungen sind besonders schutzbedürftig. Doch | |
Berlin erfasst weder sie noch ihre speziellen Bedürfnisse. | |
Flüchtlinge aus Berlin abgeschoben: In Lebensgefahr | |
Eine Familie wird nach Polen abgeschoben, obwohl die Versorgung der | |
behinderten Kinder dort nicht gegeben ist. |