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# taz.de -- Musterprozess zu Umweltvergiftung: Spielen auf den Giftmüllbergen
> Die schwedische Firma Boliden entsorgte Giftmüll in Chile. Jetzt wird sie
> von fast 800 ChilenInnen verklagt, die dadurch krank wurden.
Bild: Der Hafen von Arica, touristisches Zentrum – und Müllhalde
Stockholm taz | Wenn in Chile jemand „den Schweden macht“, dann stellt er
sich dumm. Die Wendung hacerse el sueco versteht man in der ganzen
spanischsprachigen Welt. Am Dienstag beginnt im nordschwedischen Skellefteå
nun ein Prozess, bei dem es um die Frage geht, ob man es wirklich so machen
darf, wie es „die Schweden“ machten: Ein Konzern entsorgte Zehntausende
Tonnen von Giftmüll ins Ausland, obwohl der Konzernleitung bewusst war, wie
gefährlich der Abfall war. Mit den Folgen für die Umwelt und die Gesundheit
der Bewohner wollte die Aktiengesellschaft Boliden, ein großer schwedischer
Bergbaukonzern, anschließend nichts mehr zu tun haben.
Nun führen die Betroffenen einen Musterprozess. Es klagen 796 ChilenInnen
und strengen damit den bislang größten Haftpflichtprozess in einem EU-Land
an, bei dem durch Umweltvergiftung geschädigte ausländische Kläger am Sitz
eines multinationalen Konzerns auf Schadenersatz klagen.
Die Geschichte begann vor 35 Jahren in dem Ostseestädtchen Skelleftehamn.
Dort liegt die Rönnskär-Fabrik, ein Metallschmelzwerk des Boliden-Konzerns.
Hier werden Kupfer, Blei, Gold, Silber und Zink gewonnen. Für den
Naturwissenschaftler und Juristen Rolf Svedberg, Mitte der 1980er Jahre
Umweltchef der Fabrik, war das keine leichte Aufgabe.
Rönnskär galt als eines der größten Umweltprobleme Schwedens. Die
Produktion der Metalle erzeugte große Mengen schwermetallhaltiger Abfälle
mit Arsen, Quecksilber, Kadmium und Blei. Über eine Betriebszeit von 50
Jahren hatten sich 20.000 Tonnen davon angesammelt. Als Stockholm neue
Umweltgesetze erließ, die eine „umweltgerechte Entsorgung“ dieser
Hinterlassenschaften erzwangen, war guter Rat teuer.
Svedberg fand die „Lösung“ auf der anderen Seite des Globus. In der
nordchilenischen Hafenstadt Arica bot die Firma Promel an, den Giftmüll
abzunehmen und aufzuarbeiten. Die Genehmigung des Deals war im Chile der
Militärdiktatur Pinochets kein Problem. Ein Oberst habe die notwendigen
Papiere unterschrieben, erinnert sich Svedberg.
Die Baselkonvention, die solche Exporte verbietet, trat erst 1992 in Kraft,
auch Schwedens Naturschutzbehörde hatte keine Einwände. 85.000 Dollar
musste Boliden für drei Schiffsladungen Produktionsabfall an Promel zahlen.
Als „edelmetallhaltiges Restprodukt“ deklariert, landeten sie auf großen
Halden in der Nähe von Arica.
## Slums bis zum Rand der Gilftmüllberge
Promel ging bankrott, und die Slumviertel von Arica breiteten sich im Laufe
der Jahre bis zum Rand der Giftmüllberge aus. Die Hügel aus schwarzem Sand
waren ein idealer Spielplatz für Kinder, und die vom Meer kommenden Winde
wehten den Staub, über dessen Blei- und Arsengehalt die BewohnerInnen
nichts wussten, über die Stadt.
Ende der 1990er Jahre schlugen schließlich Ärzte Alarm: Sie mussten immer
mehr Kinder wegen Atemwegserkrankungen, Skelettschädigungen, Lähmungen und
Schäden am Zentralnervensystem behandeln. Die Zahl der Fehlgeburten,
Missbildungen und Krebskrankheiten stieg. Es gab keine Zweifel, dass der
Boliden-Müll dafür verantwortlich war.
„Boliden wusste, was man tat, und verschloss die Augen“, sagt Johan Öberg.
Der Rechtsanwalt arbeitet seit vier Jahren an der Klage. Zusammen mit
schwedischen und chilenischen KollegInnen und dem US-amerikanischen
Environmental Defender Law Center (EDLC) hat er mehr als 10.000 Seiten
Beweismaterial gesammelt. Er bezeichnet den damaligen Export als „illegal
und regelrecht kriminell“.
Die 796 chilenischen KlägerInnen, die von den AnwältInnen kostenlos
vertreten werden und deren Krankengeschichten dem Gericht vorliegen,
fordern als Entschädigung für Krankheiten, Behinderungen und chronische
Schmerzen von Boliden umgerechnet je 12.500 Euro, knapp 10 Millionen Euro
insgesamt. Zuletzt machte der Boliden-Konzern 200 Millionen Euro Gewinn –
in einem Quartal.
## Tragisch, aber nicht unser Problem
Das sei alles sehr, sehr tragisch und beklagenswert, teilt der
Metallkonzern mit, aber mit der seinerzeitigen Übernahme des Mülls durch
Promel habe man mit diesem nichts mehr zu tun gehabt. Seit vor 18 Jahren
das Giftmüllproblem in Arica in Schweden bekannt wurde, streitet Boliden
jede Verantwortung ab. Einen Vergleichsvorschlag lehnte der Konzern ab.
Zudem beruft er sich nun auf Verjährungsfristen im schwedischen Recht. Nach
chilenischer Rechtslage sind etwaige Schadenersatzforderungen nicht
verjährt.
Der schwedische Staat, der den Export genehmigte, sieht sich auch nicht in
der Pflicht. Forderungen, Entwicklungshilfe für die Sanierung zu leisten,
lehnte die damalige Außenministerin Anna Lindh schon 2000 ab. Rolf
Svedberg, der ehemalige Umweltchef und mittlerweile pensionierter Richter,
bedauerte bereits 2009 öffentlich seine Rolle im Skandal und appelliert
seither an Boliden und Stockholm, unabhängig von einer juristischen
Bewertung zu ihrer Verantwortung zu stehen: „Das wäre menschlich und
moralisch das einzig Richtige.“
17 Oct 2017
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
Schweden
Chile
Giftmüll
Bergbau
Schadensersatz
Prozess
Chile
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