# taz.de -- Nordirak: Countdown zum Referendum | |
> Die Kurden im Nordirak werden über Ihre Unabhängigkeit abstimmen. Ein | |
> Stimmungsbild aus Sulaymaniyya. | |
Bild: Kuzey Irak'taki halk, referandumu bekliyor. | |
Auf der Längsstraße in Sulaimaniyya, zwischen der Großen Moschee und dem | |
Großmarkt im Viertel, ziehen die Ordnungskräfte und Peschmerga ihre Runden. | |
Die Hauptstraßen sind mit Fahnen geschmückt. Vor dem 25. September, einem | |
Montag, ist das Interesse an dem „Kurdistan-Unabhängigkeitsreferendum“ | |
groß. | |
In Sulaimaniyya, einer Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern, | |
befindet sich in einem der quirligsten Viertel die Mawlawi-Strasse. Die | |
Fernsehgeräte in den Läden senden Neuigkeiten aus der Gegend, aber auch | |
internationale Reaktionen auf das Referendum. Der sogenannte „Islamische | |
Staat“ verkündete im Vorfeld, Angriffe im Falle eines Referendums | |
durchzuführen. Es wird über einen möglichen Kriegszustand, einer | |
Intervention von ausländischen Kräften und über Angriffe der Al Haschd | |
asch-Shabi (Dachorganisation von mehreren schiitischen Milizkräften im | |
Irak, Anm. d. Red.) gemunkelt. | |
Die Zahl derer, die glauben, dass Massud Barzani, der das Parlament die | |
vorhergehenden zwei Jahre als Präsident praktisch außer Gefecht gesetzt | |
hatte, die Regierungskrise umschifft, indem er sich als nationaler Anführer | |
etabliert, ist groß. Auch wenn alle anderen Parteien außer Barzanis | |
Kurdisch-Demokratischer Partei (KDP), nicht warm werden mit dem Gedanken | |
eines Referendums, so ist ihr Widerstand gering. Auch wenn das „Nein“ leise | |
ausfällt, es gibt eine Gruppierung, die kein Referendum will. Sie nennen | |
sich „die Ablehnenden“ (Neğer) und wollen, dass ein solches Referendum | |
unter die Obhut eines funktionsfähigen Parlaments gestellt werden sollte. | |
## Der Wille des Volkes | |
In der Autonomen Region Kurdistan, ihrer Hauptstadt Erbil und den größeren | |
Städten Kirkuk, Dahok und in Sulaimaniyya ist die brennende Frage, ob das | |
Referendum überhaupt durchgeführt wird. Die USA, Türkei, Frankreich, Iran, | |
der Irak und die UN haben sich negativ zu dem Referendum geäußert. Die | |
Einwohner von Kurdistan hingegen, zumindest der Großteil, hat sich für ein | |
Referendum ausgesprochen. | |
Allgemein herrscht der Eindruck, dass alle außer den arabischen | |
Nationalisten und Turkmenen die Unabhängigkeit gutheißen. Verglichen mit | |
der Bevölkerungsverteilung, wird angenommen, dass etwa 90 Prozent für die | |
Unabhängigkeit stimmen werden. Die Euphorie vor dem Referendum ist in | |
einfache Sätzen verpackt. Ein Marktbesucher erläutert das mit den Worten: | |
„Seit 100 Jahren warten wir darauf. Wir haben noch nicht einmal einen | |
Pass!“ | |
Ist das Referendum nur eine Wahloption für das hiesige Volk? Warum will die | |
irakische Zentralregierung, die USA, Türkei, Iran und die europäischen | |
Länder sich gegen den Volkswillen stellen? Jeder hier stellt die gleichen | |
Fragen. „Wenn die Erdölfelder nicht in Kirkuk in Kurdistan liegen würden, | |
dann würde das Referendum kaum so viel Interesse hervorrufen.“ | |
## Reich an Erdöl, trotzdem ist die Bevölkerung arm | |
Ein großer Widerspruch scheint die ins Auge fallende Armut der Bevölkerung | |
in diesem Erdöl-Fördergebiet zu sein. Viele arbeiten als Beamte. Jeder, den | |
wir fragen, beschwert sich darüber, dass die Löhne zu spät und | |
unvollständig ausgezahlt werden. Der syrische Bürgerkrieg hat auch hier | |
seine Spuren hinterlassen. Im ganzen Irak leben mittlerweile knapp zwei | |
Millionen syrische Geflüchtete. In Sulaimaniyya betteln die Flüchtlinge an | |
den Hoteleingängen. | |
Auf dem Großmarkt verkauft Şüena Üsman (44) Gewürze. Er beschwert sich | |
darüber, dass es in dem Gebiet keine politisch einheitliche Kraft gibt. In | |
der Tat ähnelt die Politik Kurdistans einem Flickenteppich. Über 50 | |
Parteien, unter ihnen Barzanis KDP, Talabanis Patrioten Kurdistans (YNK), | |
die Goran-Bewegung, die Islamische Gruppe Kurdistan (KIK) und Yekgurtu. | |
Innerhalb des linken Spektrums finden sich Parteien wie „Sozialistisches | |
Demokratisches Kurdistan“ (SDK) und die Kommunistische Partei Kurdistan | |
(KKP). “Die Kurden können keine Einheit bilden“ sagt Üsman, und erzählt, | |
dass er sich von dem Referendum viel verspreche. “Ich unterstütze das | |
Referendum. Es sind so viele Parteien. Statt über Politik und Ideologien zu | |
sprechen, sprechen wir über die Familienclans. Wenn alle an einem Strang | |
ziehen würden, wäre Kurdistan frei. Eine Unabhängigkeit kann doch | |
realisiert werden, wenn alle vier Gebiete innerhalb eines Staats | |
zusammengefasst werden.“ | |
## „Da hat sich niemand einzumischen“ | |
Seit 21 Jahren als Goldschmied tätig, ist auch Rizgâr Nuri (41) für das | |
Unabhängigkeitsreferendum. Irak sei massiv verarmt. „Es gibt keine Jobs, | |
kein Geld, kein Einkommen. Die Menschen hier kriegen ihr Gehalt alle zwei | |
Monate ausbezahlt. Wir wollen die Unabhängigkeit. Diese Forderung kommt vom | |
Volk, da hat sich niemand einzumischen. Der türkische Staatspräsident zum | |
Beispiel, ist gegen das Referendum. Solche Entscheidungen werden aber nicht | |
mit dem Willen anderer Regierungsführer getroffen. Aber wir wollen keinen | |
Krieg, dass würde jeden in dieser Region belasten.“ | |
Als Turkmene floh Cemil A. (55) aus Mossul einst vor den IS-Truppen, die | |
seine Stadt eroberten und lebt seitdem in Sulaimaniyya. Er ist gegen das | |
Referendum. Er wünscht sich eine Geschlossenheit, kann aber nicht umhin, | |
die Wichtigkeit zu betonen, die Bevölkerung zu befragen. Trotzdem sagt er: | |
„Ginge es nicht um Kirkuk, würde das Referendum kaum auf so viel Interesse | |
stossen. | |
Über Mossul fügt Cemil A. an: „Wer hat den „IS“ so groß gemacht? Natü… | |
die USA, Israel und die Türkei. Aus der Türkei kamen ganze Ladungen voller | |
Waffen. In Falludscha kamen die US-Soldaten mit dem Helikopter und nahmen | |
hochrangige IS-Führer mit. Das ist ein riesiges Spiel. Sie lassen die | |
Bevölkerung hier nicht in Ruhe und nehmen ihnen auch noch alles aus der | |
Hand. Ich kann das Referendum auch nur als Teil dieses Spiels sehen.“ | |
## „Die Zeit der Osmanen ist vorbei“ | |
Der Imbissbesitzer Lokman Arif (55), beschreibt seine Gefühle so: „Es | |
reicht, wir haben das Sklavendasein satt.“ Er kritisiert die | |
imperialistischen Kräfte und die Politik Erdogans: „Wir wollen einen Staat. | |
Die Türkei will im Parlament beschließen, Truppen in den Irak zu schicken. | |
Sie sind auf uns angewiesen. Von hier aus senden wir 700 Tonnen Erdöl | |
dorthin. Seit Jahren sagt die Türkei, dass Mossul und Kirkuk ihnen gehöre | |
und nimmt den Osmanischen Staat als Referenzpunkt. Das Gleiche können sie | |
doch auch im Balkan und in Griechenland fordern. Die Zeiten sind mit dem | |
Untergang des Osmanischen Reiches vorbei. Das muss klar gesagt werden.“ | |
Die einzige Frau, die reden will, ist die 24-jährige Başhin S. „Ich glaube | |
nicht, dass das Ergebnis gut ausfallen wird. Die Türkei, Europa, die USA | |
und der Iran bereiten uns Probleme. Natürlich wollen die Unabhängigkeit. | |
Aber Kurdistan ist noch nicht bereit dazu. Kurdistan erhält alles aus der | |
Türkei und dem Iran. Wir müssen abwarten.“ | |
Einen Tag vor dem Unabhängigkeitsreferendum der Kurden im Nordirak hat der | |
Chef der autonomen Region, Massud Barzani, die Partnerschaft mit der | |
Zentralregierung in Bagdad für „gescheitert“ erklärt. Diese Partnerschaft | |
werde nicht wieder aufgenommen, sagte Barzani am Sonntag auf einer | |
Pressekonferenz in der Gebietshauptstadt Erbil. Er fügte hinzu: „Wir sind | |
zu der Überzeugung gelangt, dass die Unabhängigkeit ermöglichen wird, eine | |
Wiederholung der Tragödien der Vergangenheit zu verhindern.“ | |
24 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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