# taz.de -- Nach dem Volksentscheid Tegel in Berlin: Dicke Luft in Reinickendorf | |
> Am Kurt-Schumacher-Platz dröhnen die Maschinen, dennoch hat dort eine | |
> Mehrheit für die Offenhaltung des Flughafen Tegel gestimmt. Warum? | |
Bild: Und wieder ist ein Flieger im Anflug auf Tegel über Reinickendorf hinweg… | |
Berlin taz | Ein grauer Vormittag am Kutschi, wie der Kurt-Schumacher-Platz | |
in Reinickendorf ja gerne genannt wird. Die adrett beschnittenen Ahornbäume | |
machen nicht die vielen leeren Pappbecher und Zigarettenschachteln wett, | |
die hier die Gehwege zieren. Von den vier Springbrunnen funktionieren nur | |
zwei. Die Wolken hängen so tief, dass man die Flieger, die gleich nebenan | |
landen werden, nur hört. Aber das macht es umso bedrohlicher. | |
Der Lärm ist ohrenbetäubend. Eigentlich unfassbar, dass um diesen Ort | |
herum, im derbsten Teil der Einflugschneise, beim Volksentscheid am Sonntag | |
bis zu 60 Prozent der Anwohner für die Offenhaltung von Tegel stimmten. | |
Marion B., 65 Jahre, steht in Jogginghosen am Altberliner Imbiss und isst | |
zu dieser frühen Morgenstunde Pommes rotweiß. Auf ihrem Balkon werden die | |
Tomaten nichts, berichtet sie, „wegen dem Kerosin.“ | |
Sie hasst den Krach. Aber sie hat trotzdem für Tegel gestimmt. Nicht, dass | |
sie es sich als Rentnerin, die lange erwerbsunfähig war, leisten könnte, | |
oft zu fliegen. Eher wollte sie „denen da oben“ einen Denkzettel geben. | |
„Die kriegen gar nichts hin“, sagt sie. Darum hat sie auch AfD gewählt. | |
Ähnlich sehen das Bernd und Klaus, 65 und 67 Jahre alt, beide Rentner. Sie | |
sitzen bei einem gepflegten Pott Filterkaffee in einem Billigcafé. Den | |
Denkzettel haben auch sie der SPD und der CDU gegeben, indem sie AfD | |
beziehungsweise FDP gewählt haben. Für Tegel haben sie aus anderen Gründen | |
gestimmt: Sie haben sich an den Krach gewöhnt, sagen sie und befürchten, | |
dass, wenn der Lärm weg ist, die Mieten noch stärker steigen würden. | |
Im Moment zahlt der eine für drei Zimmer auf 71 Quadratmetern 457 Euro | |
warm, der andere für anderthalb Zimmer auf 41 Quadratmetern 400. Sie haben | |
davon gehört, dass im nahe gelegenen Schweizer Viertel gerade saniert | |
wurde. Die Mieten dort könnten sie sich nicht mehr leisten. | |
Wer sich die Statistiken anschaut, wie die soziale Lage in dieser Ecke von | |
Reinickendorf ist, der wird keine guten Zahlen finden, aber auch keine ganz | |
schlechten. Die Arbeitslosigkeit liegt bis über zehn Prozent, an manchen | |
Ecken gibt es mehr als 20 Prozent Transferbezieher und mehr als 48 Prozent | |
Kinderarmut. Das ist überdurchschnittlich für Berlin, aber es gibt Ecken, | |
die schlechter dran sind: Teile vom Wedding, Teile Neuköllns, der Norden | |
Marzahns. Trotzdem haben hier, im Wahlbezirk 222 rund um die | |
Schwarnweberstraße, 18 Prozent AfD gewählt. Die Leute haben Angst. | |
Zum Beispiel vor Ausländern, selbst wenn sie selbst ausländische Wurzeln | |
haben. Im Einkaufszentrum sitzen unter der Rolltreppe Christina und ihr | |
Exfreund Anastasios, 55 und 59 Jahre alt. Christina ist Halbgriechin, wie | |
sie sagt, allerdings fühlt sie sich als Deutsche. Anastasios ist Grieche | |
mit deutscher Staatsbürgerschaft. Anders als die anderen haben sie gegen | |
Tegel gestimmt, sie finden den Krach unfassbar. Anders als jene sind sie | |
aber auch in gutem Lohn und Brot, arbeiten bei einer Rentenversicherung und | |
in der Altenpflege. | |
Trotzdem können sie sich vorstellen, dass die Menschen hier Sorgen vor | |
steigenden Mieten haben. Vor allem unter den Ausländern seien viele | |
Sozialbetrüger, meinen sie. Die würden dann vom Jobcenter zum Umzug | |
gezwungen, was ja vielleicht auch nicht das Schlechteste wäre. | |
Die AfD hat das einstige Pärchen trotzdem nicht gewählt. „Diesmal haben wir | |
uns für die Tierschutzpartei entschieden“, sagt Christina und klemmt sich | |
dann Anastasios’ Hand unter den einen Arm und den Dackelmischling, der | |
bislang geduldig gewartet hat, unter den anderen. | |
29 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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