# taz.de -- Filmstart „Stromaufwärts“: Klettern und sich nass spritzen | |
> Erzählerisches Kunststück: Die Regisseurin Marion Hänsel inszeniert in | |
> „Stromaufwärts“ das Kennenlernen zweier ungleicher Brüder. | |
Bild: Filmstill „Stromaufwärts“ | |
Joé ist ein Reisender und ein Schreibender. Sergi López verleiht ihm in | |
seinem Spiel eine erfahrene Zärtlichkeit, und wenn die Kamera ihm wieder | |
einmal lange zusieht, lacht er manchmal in sich hinein. Dieser Joé strahlt | |
Ruhe und Bestimmtheit aus, weiß auf sich aufzupassen. Er hat 50 Jahre auf | |
dem Buckel, war lange als Fischer in Alaska. Ein einsamer Wolf, der dennoch | |
nicht seine Herzlichkeit verloren hat. Im neuen Film der belgischen | |
Filmemacherin Marion Hänsel wird ihm seine Reiserichtung vorgegeben: | |
„Stromaufwärts“ („En amont du fleuve“). | |
Der Strom zieht sich durch die kroatischen Berge. Joé ist dort mit seinem | |
Stiefbruder Homer (Olivier Gourmet) unterwegs. Auch Homer ist keine zwanzig | |
mehr und ein Arbeitertyp, liest nicht besonders gern und wird schnell | |
aufbrausend. Ein Trinker, der viel gekämpft hat. Die Männer sind sich | |
Unbekannte, haben sich nicht immer was zu sagen. | |
Aber umkehren will keiner. Sie sitzen im gleichen Boot und fahren gegen den | |
Strom, wollen ihren Frieden machen. Wollen wissen, was es mit dem Tod ihres | |
Vaters auf sich hat. Vor Kurzem wurde der in den kroatischen Bergen nahe | |
einem Kloster mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Dann taucht ein irischer | |
Jäger (John Lynch) auf und scheint mehr zu wissen. | |
„Mein Film soll zart sein wie der Atem eines Kindes und trotzdem aufgeladen | |
mit einer immer präsenten, unterschwelligen Gewalt.“ So kommentierte Marion | |
Hänsel vor einigen Jahren ihren Film „Schwarzer Ozean“. Auch ein Film über | |
Männer, in dem Fall schöne Jünglinge. Die werden mitten in der Weite des | |
Ozeans als Versuchskaninchen für einen Atombombentest missbraucht. Michael | |
Kienzl schilderte in seiner Filmkritik auf critic.de, wie Hänsel sich beim | |
Erzählen auf Freiräume konzentriert, Greifbares immer wieder auslässt. | |
Die Gewalt, von der sie spricht, wird in dem Film selten sichtbar, dann | |
aber explizit. Kienzl beschreibt, wie sie letztlich in einen der Männer | |
einsickert: „Wer von der Grausamkeit der Welt weiß, wird dementsprechend | |
sein Verhalten ändern.“ | |
Sowohl „Schwarzer Ozean“ als auch „Stromaufwärts“ basieren auf Texten … | |
ehemaligen Marinesoldaten Hubert Mingarelli. Hänsel arbeitete mit ihm für | |
beide Filme zusammen, die Ergebnisse heißen anders als die Buchvorlagen. | |
Hänsel adaptierte für ihre mittlerweile zwölf Langfilme fast immer Bücher, | |
suchte den Austausch mit den Autorinnen und Autoren. | |
## Methodisch-thematische Wiederkehr | |
Erst ein Film („Zärtlichkeit“) entstand ohne eine literarische Vorlage oder | |
gemeinsame AutorInnenschaft. Die studierte Theater- und Filmschauspielerin, | |
Produzentin und Drehbuchautorin macht mit ihrer Produktionsfirma „Man’s | |
Films“ schon seit 1977 Kino und interessiert sich offensichtlich für | |
verschiedene Zugänge zum filmischen Arbeiten. | |
Hänsels Karriere scheint eine der bewussten Wiederkehr zu sein, methodisch | |
wie thematisch, bis hin zur wiederholten Entscheidung für Schauspieler – | |
etwa Olivier Gourmet. In einem Presseheft zu „Stromaufwärts“ spricht sie | |
über Motive aus früheren Filmen, von einer Art Traditionslinie in ihrem | |
Arbeiten, von Verwandtschaften zwischen Figuren, Vätern und deren | |
Abwesenheit. Und auch die Räume kehren wieder. Das Meer aus „Schwarzer | |
Ozean“ war zuvor bei „Als der Wind den Sand berührte“ eine Wüste. Nun s… | |
beide einem Berglabyrinth gewichen. | |
Die Orte ähneln sich: Joé und Homer sind immer wieder orientierungslos, | |
verwundbar und entblößt. Kaum verwunderlich, dass Homer sich unwohl fühlt: | |
„Ich finde es nur bedrückend hier.“ Manchmal, nachts, wird es fast | |
unheimlich, wie in Joés Büchern, wenn Geräusche in der Natur zu hören sind | |
und die Kamera im Licht des Lagerfeuers oder im Dunkel der Bootskabine die | |
Gesichter nicht mehr zu greifen vermag. | |
Auch die Gewalt ist in Hänsels neuem Film. Der irische Jäger Sean kennt aus | |
seiner Vergangenheit den Extremismus der IRA. Er trägt sein Gewehr so lange | |
bei sich, bis Homer es wutentbrannt an sich reißt. Und Joé hat die Gewalt | |
des Vaters erlebt, wenn er immer wieder zuschlug. | |
## Kindliches Entdecken | |
Der Tod dieses Vaters hat im Film ebenfalls eine Brutalität. Sein | |
Verschwinden schmerzt. Der Patriarch ist für immer entrissen. Die Männer | |
wurden nie anerkannt von ihm, er hat sich schon zu Lebzeiten abgewendet. | |
Joé kannte ihn, hat ihn aber seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Nun ist er | |
endgültig fort, beide Brüder müssen das begreifen und suchen einen neuen | |
Blick auf ihre Lebensentwürfe. | |
Im Freiwerden des Blicks entwickelt Hänsels Film dann in der Tat immer | |
wieder das Kindliche, von dem sie einmal sprach. Schon als das Boot zu | |
Beginn ablegt, bekommt Joé von einer Kinderbande einen Hundewelpen in die | |
Hand gedrückt, der fortan um die Männer herumwuseln wird. Wenn die | |
Vergangenheit gerade nicht in Erscheinung tritt, dann offenbart sich für | |
die beiden ungleichen Brüder auf ihrer kleinen Heldenreise immer wieder | |
eine Leichtigkeit, die Möglichkeit zur gemeinsamen Neuentdeckung und | |
Wiederaneignung der eigenen Biografien. | |
Auf dem Rückweg aus den Bergen tun sich dann unerwartete Erkenntnisse auf, | |
ein friedlicher Abschied. Die Brüder verstehen, dass die nächsten Schritte | |
in ihrem Leben sich unerwartet leicht anfühlen werden. Und vielleicht wird | |
Homer ja die Hauptfigur in Joés nächstem Roman? Endlich mal etwas | |
Realistisches Schreiben! „So läuft es nicht“, meint Joé. | |
Wären López und Gourmet (Letzterer spielt in allen Filmen der | |
Dardenne-Brüder) nicht solche Profis, könnte der Film mit seiner | |
eindeutigen Vaterschafts-Themensetzung, seiner klaren Reiseroute und seiner | |
regulierten Informationspolitik schnell ins Konstruierte abdriften. Details | |
über die Brüder und den mysteriösen Sean platziert Hänsel jedoch nicht im | |
Sinne einer vorhersehbaren Unterhaltungsdramaturgie. | |
## Waffen überall | |
Die Kerle wollen nicht reden, und insbesondere Joé spart gerne | |
Informationen aus oder hält diese zurück. Woher die sich kennen und warum | |
sie reisen, überhaupt die Namen der Brüder, all das tröpfelt eher nach und | |
nach ins Bewusstsein, als dass es einen klärenden Fluss gäbe. Und doch | |
gelingt das Kunststück: Kein Gespräch fühlt sich forciert an, und das | |
Kennenlernen der Brüder mutet in der Tat wie ein Kennenlernen an. Das | |
Miteinander-Spielen, das funktioniert hier schauspielerisch ebenso wie als | |
kindliches Vergnügen zweier Brüder, miteinander herumzuklettern und sich | |
nass zu spritzen. | |
Selbst die Homer-Referenz mit der überdeutlichen Namensgebung geht auf. In | |
der Mitte des Films, auf dem Gipfel des Berges, wenn Waffenschmuggel und | |
Terrorismus konturiert und bebildert werden, schwingt der Krieg mit am | |
Rande der privaten Fragen. Denn der Verstorbene war in der Tat ein | |
Odysseus-Vater, der seine Frauen und Kinder verließ und nicht mehr | |
heimkehrte. Ein Vater mit kriegerischen Verwicklungen, der nach Afrika, | |
Südamerika und Afghanistan reiste. | |
Waffen sind überall gefragt. Es wird Irland mit Kroatien vermischt, die | |
Leiche bei einem Kloster gefunden, vor dem Hintergrund eines ikonischen | |
Abendland-Dichters. Natürlich ist das religiös konstruierte Abendland eine | |
fehlbare, diskriminierende Konstruktionslogik der Abgrenzung und | |
Andersartigkeit. Ebenso, wie der Patriarch ein problematischer Typ war. | |
Hänsel eröffnet auf elegant zurückhaltende Art und Weise Denkräume, ohne | |
sie zu forcieren. Am Ende hat Joé den Vater überwunden und will andere | |
Bücher schreiben. Eine doppelte Abwendung. | |
28 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Dennis Vetter | |
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