# taz.de -- Kolumne Fremd und befremdlich: „Bei euch im Osten“ | |
> In Hamburg schnitt die AfD so schlecht ab wie in keinem anderen | |
> Bundesland. Soll mich das trösten? Gedanken einer in Märkisch-Oderland | |
> geborenen. | |
Bild: An vielen Stadträndern gibt es solche Viertel: Wo es ein bisschen aussie… | |
Alle schreiben über die Wahl. Alle reden über die Wahl. Und ich kann mich | |
in andere Dinge vertiefen. Ich kann Kriminalromane lesen, Filme gucken, ein | |
paar Gin-Tonic trinken oder auch eine Liebesgeschichte schreiben. Aber | |
immer und immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Es ist ja nicht | |
zu ändern.“ | |
Und dann weiß ich, und das ist so ähnlich wie, wenn man Liebeskummer hat | |
und sich abzulenken versucht. Aber durch alle anderen Gedanken hindurch | |
zieht sich immer nur der eine: Die AfD zieht in den Bundestag ein. Ich | |
wollte keine Kolumne zur Wahl schreiben. Die Wahl ist kein regionales, | |
norddeutsches Thema. Aber worüber soll ich schreiben, wenn mich gerade | |
heute fast gar nichts anderes interessiert als die Wahl? Ich versuche, mich | |
zu trösten. Ich versuche, etwas zu banalisieren, was nicht zu banalisieren | |
ist. | |
Ich las vorige Woche „Bei uns in Auschwitz“ von Tadeusz Borowski. Ich würde | |
es allen empfehlen, die glauben, dass bestimmte Dinge „irgendwann auch mal | |
vorbei“ sein müssen. Dass Schuld sich nicht endlos übertragen lässt, von | |
Generation zu Generation zu Generation. | |
Und ich dachte, ich würde gerne diesen Menschen sagen, dass es egal ist, ob | |
dein Urgroßvater ein Nazi war oder nicht. Es liegt die Schuld nicht in der | |
Verwandtschaft, sie liegt im Menschlichen begründet. Menschen waren in der | |
Lage, anderen Menschen so etwas anzutun. Menschen wären auch wieder dazu in | |
der Lage, davon bin ich fest überzeugt. Menschen sind nicht gut. Das Böse | |
ist in jedem von uns, und damit wir das nicht vergessen, damit wir uns | |
immer daran erinnern, was aus Abwertung anderen Menschen gegenüber | |
entstehen kann, dürfen wir nicht vergessen, was in der Vergangenheit | |
passiert ist. | |
Die AfD ist nicht die NSDAP. Aber die AfD bietet den Menschen einfache | |
Lösungen. Sie sagt ihnen, dass sie aufgrund ihrer Nationalität ein größeres | |
Anrecht auf das Leben in diesem Land, auf Sozialleistungen hätten, als | |
andere Menschen. „Mir gehört das. Das ist meins!“, schreit der kleine | |
Junge. „Ich hab’ das zuerst gehabt. Meine Eltern haben das gekauft!“ | |
Es sind dieselben Menschen, die nicht an die Vererbung von Schuld glauben. | |
Vererbt sich Schuld? Ich weiß nicht. Aber wenn sich Schuld nicht vererbt, | |
warum sollen sich dann soziale Vorrechte vererben? Warum finanzielle | |
Vorteile? Warum soll sich überhaupt etwas vererben lassen? Warum sollen wir | |
das Geld unserer Eltern erben können, wenn wir nicht die Schuld unserer | |
Eltern erben brauchen? | |
In Hamburg hat die AfD so schlecht abgeschnitten wie in keinem anderen | |
Bundesland. Soll mich das trösten? In meinem Geburtskreis, in | |
Märkisch-Oderland, in Brandenburg, hat die AfD über 20 Prozent der | |
abgegebenen Stimmen bekommen. Wenn ich mit meiner Mutter rede, bei ihr am | |
Esstisch, in ihrem Plattenbau, in den sie erst im vergangenen Jahr gezogen | |
ist, nachdem mein Vater starb, dann fällt es mir schwer, nicht zu sagen: | |
„Bei euch hier im Osten.“ Bei euch hier im Osten, da sieht es immer noch | |
nach Osten aus. | |
Aber kürzlich dachte ich, als ich durch ein Hamburger Viertel ging: „Hier | |
sieht es auch aus wie im Osten.“ Es gibt in fast jeder Großstadt solche | |
Viertel, an den Rändern, in den Kleinstädten. Es ist sauber, wo meine | |
Mutter wohnt, eine Kasernenstadt. Die Plattenbauten sind in Pastellfarben | |
gestrichen, die Balkone bepflanzt. Es gibt ein neues Einkaufszentrum, da | |
haben sie sogar Biosachen. Meine Mutter kauft die ein. Sie gibt ihre Rente | |
für Biolebensmittel aus. Ich kann nicht sagen, es tut mir leid, dass du | |
hier leben musst, denn sie lebt ganz gerne dort. Sie hat nette Nachbarn. | |
Ich weiß nicht, was man tun soll. | |
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen | |
Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich | |
bei Rowohlt Berlin erschienen. | |
27 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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