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# taz.de -- Roman von Julia Schoch: 16 Ichs erzählen
> Das innere Erleben ehemaliger Eliteschüler der DDR: Julia Schoch erzählt
> in ihrem Roman „Schöne Seelen und Komplizen“ von Wendebiografien.
Bild: Julia Schoch
Vor ein paar Tagen erst warnten Intellektuelle, Politiker und Unternehmer
in der Süddeutschen Zeitung vor der Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in
gesellschaftlichen Führungspositionen: „Dieses Land wird vom Westen
dominiert.“ Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan vergleicht sogar die
mangelnde Integration von Migranten in der Bundesrepublik mit der der
Ostdeutschen und beobachtet ähnliche Reaktionen von Rückzug bis
Radikalisierung.
So politisch konkret wird Julia Schochs literarisches Generationenporträt
„Schöne Seelen und Komplizen“ an keiner Stelle, und doch scheint der Befund
unter der Romanoberfläche permanent mitzuschwingen.
In 16 zwei- bis dreiteiligen Miniaturporträts skizziert die 1974 in Bad
Saarow geborene Autorin den fiktiven Abiturjahrgang 1992 der ostelitären
Potsdamer Käthe-Kollwitz-Oberschule, die 1990 in Luisengymnasium umgetauft
wird und einen Direktor aus dem Westen bekommt. Allesamt erzählt aus der
Ichperspektive, überschrieben nur mit den Namen der Erzählenden. Die
Texte im ersten Teil des Romans spielen in der sogenannten Wendezeit, die
im zweiten rund 25 Jahre später.
16 Ichs sind eine Menge, und dadurch, dass alle wie im intimsten Tagebuch
unmittelbar von sich berichten und wenig erklären, wird jede beiläufige
Information fürs Gesamtbild kostbar, die Lektüre notwendig
hochkonzentriert.
## Die komplizierte Lydia
Gleichzeitig ist meist von den Beziehungen untereinander die Rede, sodass
man über jeden der 16 aus mindestens zwei Perspektiven erfährt. Von einem
Porträtsplitter zum nächsten wird die äußere Handlung stets ein Stück
weitergeschoben, erkennbar eher an Nebenbemerkungen zur sich verändernden
Außenwelt. Im Zentrum steht jedoch das innere Erleben zweier biografischer
Phasen: auf der Schwelle zum Erwachsensein und in der sogenannten Mitte des
Lebens, die wie im Fall von Bodo Stamm auch schon das Ende sein kann.
In der ersten Buchhälfte fällt die Orientierung aber auch deshalb schwer,
weil die Ichs sich trotz charakterlicher Unterschiede so ähneln. Klar gibt
es den selbstbewussten Künstlersohn Alexander, die komplizierte Lydia, die
sich für Poesie begeistert, die Streberin Steffi, die schon als Teenager
mit ihrem Freund die Ehe der Eltern nachspielt, den sensiblen Christoph,
den sein Deutschlehrer mit Hermann Hesse anflirtet, die farblose Kathi,
deren Vater ein hohes Parteitier ist. Das Typenmäßige fällt jedoch auch
deshalb nicht negativ ins Gewicht, weil alle ganz mit sich beschäftigt sind
und die weltgeschichtliche Großumwälzung, die de facto ihr Leben
erschüttert, nur tröpfchenweise in ihre um Liebesbeziehungen, Schul- und
Familienprobleme kreisenden Gefühlswelten sickern lassen.
Hinzu kommt, dass Julia Schoch sie fast alle in demselben klaren, dichten,
melancholisch aufgerauten Ton erzählen lässt. Fast so, als spräche hier ein
Kollektiv-Ich. Ein Hinweis auf eine bestimmte Entwicklungsstufe oder gar
auf die weniger individualistisch ausgerichtete Kultur in der ehemaligen
DDR? Einer jedenfalls fällt schon damals heraus: der hoch empfindsame, mit
seinen eigenwilligen Ordnungssystemen wahrscheinlich autistische Bodo, der
zugleich Schochs heimliche Poetik entwickelt: „Natürlich müssten die
Beschreibungen in diesen Briefen Beschreibungen des Wesentlichen sein,
Beschreibungen der Eisbergmassen, die unter der Wasseroberfläche liegen.“
## Das Kollektiv-Ich
Im zweiten Teil differenziert sich das Kollektiv-Ich dagegen radikal aus.
Die Figuren und ihre komplex reflektierten Seelenlagen werden
superplastisch, ihr Sound individueller, genau wie die Häuser, Hotelzimmer
und materiellen Dinge, die sie umgeben. Viele der ehemaligen Eliteschüler
haben bürgerliche Berufe ergriffen, Christoph ist Anwalt, Lydia
Schriftstellerin, Alexander Geschichtsprofessor, Martin Tourismusmanager in
Kanada, Steffi Lehrerin an ihrer alten Schule, die christlich engangierte
Rebekka schreibt als Ökohausfrau immer noch an ihrer Promotion.
Doch trotz materiellen Wohlstands und ansehnlichem sozialen Status nagt in
fast allen eine tiefgreifende Unzufriedenheit, ein Verlustgefühl (und sei
es, wie beim Sexaddict Christoph, ganz konkret der Geschmackssinn), das sie
sogar ganz einträchtig mit den weniger Erfolgreichen teilen: Da macht es
für das innere Erleben plötzlich keinen Unterschied, ob der Familienvater
Tomas auf der Suche nach der weggeworfenen Bastelarbeit seiner Tochter
einen Nervenzusammenbruch erleidet oder ob Britta, die einstige Beautyqueen
der Klasse, mittellos und womöglich schwanger in Barcelona vom potenziellen
Vater ihres dritten Kindes vor die Tür gesetzt wird.
Auch hier stellt sich wieder die Frage, ob das nun ganz normale
Midlife-Krisensymptome sind oder die endgültig unglückliche Ankunft in der
nach westlichen Regeln strukturierten Gesellschaft. Es ist auch eine große
Stärke von Schochs Roman, diese Frage offenzulassen und am Ende zwar keine
einzige wirklich heitere, aber eben doch 16 verschiedene Antworten zu
geben.
14 Mar 2018
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
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DDR
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