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# taz.de -- Lesungen in Niedersachsen: Die Unbeirrtheit des Nacktmulls
> Eliot Weinberger schreibt über ferne Kulturen und ihre überraschende Nähe
> und kennt sich mit chinesischen Herrscherdynastien und Woodstock aus
Bild: Warum wird Eliot Weinberger in Deutschland immer wieder auf Nacktmulle an…
Es gibt verschiedene mögliche Anfänge, über Eliot Weinberger zu schreiben.
Über den schon beinahe wunderkindhaft wirkenden Schüler und Studenten, zum
Beispiel, der sich später bemerkenswert präzise erinnert hat an die
Momente, die Zufälligkeiten auch, in denen und durch die sich seine
Interessensgebiete offenbarten. Mit 13 Jahren dachte Weinberger, dass er
„vielleicht Archäologe werden würde, spezialisiert auf Mesoamerika“. Als
Kind schon hatten ihn Ausgrabungen fasziniert, damals allerdings die des
antiken Troja. Die Lektüre des Kinderbuches „The Story About Ping“ legte
dann die Saat für ein lebenslanges Interesse an der Kultur Chinas.
Wer würde nicht gerne auf solche Zufälle im Lebenslauf hinweisen können?
Beim Lesen in der Schulbibliothek fand Weinberger eines Tages zwischen den
Seiten eines sehr dicken Buchs – vermutlich William H. Prescotts „History
of the Conquest of Mexico“ – einen Zettel, darauf: Octavio Paz’ Gedicht
„Sunstone“, im Original „Piedra de Sol“, übersetzt von Muriel Rukeyser…
junge Weinberger sah, dass der Text auf dem Aztekischen Kalender basierte,
und dachte sich: Darüber weiß ich schon was, also les’ ich das mal. „Es w…
das erste moderne Gedicht, das ich je gelesen habe“, sagte er später. „Es
hat mein Leben völlig verändert – und mich dazu gebracht, selbst schreiben
zu wollen.“
Als fremd wahrgenommene Kulturen und ihre Errungenschaften, Poesie, der Akt
der Übersetzung: Im Rückblick fügen sich da schon etliche der Elemente
zusammen, die immer wieder zum Tragen kommen in Weinbergers weiterem Leben.
Spanischsprachige, später auch chinesische Autoren hat er dem
amerikanischen Publikum nahegebacht, sei’s als Übersetzer, sei’s als
Herausgeber von Anthologien. Die literarische Landschaft Nordamerikas hat
er als eine „nationalistische“ bezeichnet – unter Hinweis auf die
verschwindend geringe Zahl von Übersetzungen aus anderen Sprachen, die es
dort in die Regale schaffen.
Den Zufall wird als typisch empfinden, wer Weinberger liest – oder ihm
zuhört. Im deutschen Sprachraum ist er vor allem durch seine Essays
aufgefallen. Soeben ist ein neuer Sammelband erschienen: Vogelgeister. Bei
Weinberger bedeutet das eben immer wieder auch das überraschende
Zusammentreffen von so nicht zusammen Erwartetem. Es können also die Themen
sein, bei deren Auswahl Weinberger offensichtlich aus einem größeren,
tieferen Kessel Buntes schöpfen kann als andere: Über chinesische
Herrscherdynastien hat er geschrieben und über Hochzeitsmythen aus dem
nördlichen Indien, aber auch über Occupy Wall Street, die Memoiren von
US-Präsident George W. Bush oder – kein Witz – den Nacktmull, wie er
unbeirrt ein Leben lebt, während sich über seinem Kopf, an der Oberfläche,
die Menschen gegenseitig massakrieren.
Das wäre so ein anderer Einstieg, über den 1949 in New York City geborenen
Weinberger zu sprechen: die Form, dieser nur scheinbar verschwindende
Unterschied zwischen einer Lehrbuch-Idee, davon, wie ein Essay zu sein hat,
und dem, was er damit anstellt: „Statt Schlüsse zu ziehen für seine Leser,
lässt er Informationen ihr eigenes Argument werden“, so [1][umriss es] im
Vorjahr ein australischer Rezensent. Heraus kämen „verrätselte“ Texte mit
offenem Ende.
„Ich erfinde nichts“, hat Weinberger selbst einmal eine der „Faustregeln�…
seines essayistischen Schreibens gefasst. „Alles ist unabhängig
überprüfbar.“ An anderer Stelle sagte er, er schreibe Essays wie andere
Poesie: „Ich höre den Sätzen zu und interessiere mich für etwas
Musikalisches. Ich vollziehe Sprünge, ohne notwendigerweise alles
dazwischen auszufüllen.“ Dem englischsprachigen Essay bescheinigt er, allzu
sehr verhaftet zu sein in Ideen des 19., gar 18. Jahrhunderts. Nie habe
diese Textart eine Avantgarde-Bewegung erlebt, anders also als die Poesie,
das Drama oder auch der Roman – und viel zu sehr setzten die meisten
Autoren auf die Ich-Perspektive.
Die scheut Weinberger beinahe kategorisch: Er habe in der zurückliegenden
Stunde öfter das Wort „ich“ benutzt als in sämtlichen seiner Texten, hat …
mal auf irgendeiner Bühne gesagt, und man ist versucht anzunehmen, dass das
einer Prüfung sogar Stand hielte. Manchmal scheint er sich als Autoren
sogar noch weiter zurückzunehmen: Dann montiert er, collagiert, verdichtet.
Sein vielleicht meist beachteter Text war so eine literarische Collage:
„What I Heard About Iraq“, 2005 [2][zuerst in der London Review of Books
veröffentlicht], und bald auch [3][in Lettre International auf Deutsch].
Darin reihte Weinberger authentische Aussagen aus der Zeit des Irakkriegs
aneinander, von mehr oder minder prominenten Sprechern. Es wurde der
meistaufgerufene Text im Online-Angebot der London Review, es diente
Bühnenbearbeitungen und Kunstwerken zur Vorlage.
Aus der Zeit, in der er das vielfältige Material sammelte, rührt wohl auch
Weinbergers mitunter naiv wirkende Begeisterung für das Internet her:
Schließt man sich seiner Darstellung an, wonach die US-Medienlandschaft
damals, post 9/11, „der in der Sowjetunion“ geähnelt habe – insofern als
sie nur gebracht hätte, was die Regierung veröffentlicht haben wollte, dann
vollzieht man vielleicht auch nach, warum einer da so unbekümmert von den
alternativen, den eigentlichen Nachrichten im Internet schwärmt. Wie er zu
den jüngsten Befunden zu Fake News und Filterblasen steht, das könnte man
ihn vielleicht fragen, wenn er nun auch in Hannover und Göttingen auftritt.
Es gibt in seinem Werkverzeichnis noch so ein viel beachteten, vielleicht
nicht durchweg auch verstandenen Eintrag: eine Art stark erweiterte
Rezension der 2011 erschienenen Memoiren des vormaligen US-Präsidenten
George W. Bush – gelesen aber mit einer poststrukturalistischen, einer
ausdrücklich Foucault’schen Perspektive. Dass so ein Ex-Präsident nicht
unbedingt selbst verfasst haben muss, wo sein Name drauf steht, ist das
eine. Im Falle Bushs aber, an dessen (vermeintlichen) Erinnerungen gleich
eine ganze Handvoll anderer schrieb, ließen sich Fragen von Autorschaft und
Authentizität nochmal funkensprühender verhandeln – und, wieder einmal,
überraschender.
Man muss ja nicht gleich die Redensart vom missachteten Propheten bemühen:
Dass er anderswo bekannter sein könnte, seine Texte mehr beachtet werden
als zuhause, das ist eine reale Größe für Eliot Weinberger. Übersetzt in
rund 30 Sprachen, erschienen viele seiner Texte zuerst in ausländischen
Publikationen, seit 1995 etwa auch auf Deutsch in Lettre International. Wer
sich für die politischeren Stücke interessierte, den musste der Autor
höchstselbst versorgen – per E-Mail. So erschienen auch seine Beobachtungen
aus dem letzten US-Präsidentschaftswahlkampf nicht in den USA, sondern
zunächst in Großbritannien.
Auch in Berlin ist er ein gern gesehener Gast: Bei stolzen 13 der insgesamt
17 bisherigen „Internationalen Literaturfestivals“ stand er dort auf dem
Programm. Auch jetzt gerade wieder las er nicht nur, sondern musste im
einen oder anderen Diskussionsforum den Europäern erklären, was seine
Landsleute nun schon wieder gemacht haben. Ob er dabei immer noch so
regelmäßig nach jenem Text über den Nacktmull gefragt wird, dessen
Popularität gerade bei deutschen Lesern und Zuhörern ihn immer wieder so
erstaunt hat?
11 Sep 2017
## LINKS
[1] http://cordite.org.au/interviews/rolfe-weinberger/
[2] https://www.lrb.co.uk/v27/n03/eliot-weinberger/what-i-heard-about-iraq
[3] https://www.lettre.de/content/eliot-weinberger_was-ich-h%C3%B6rte-vom-irak
## AUTOREN
Alexander Diehl
## TAGS
US-Literatur
Englische Literatur
Tierforschung
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