# taz.de -- Sonderkommission zieht Bilanz: Serienmörder mit Spitzenzeugnis | |
> Infolge mangelhafter Kontrollen konnte Pfleger Niels H. 90 Menschen | |
> ermorden. Die gesetzliche Verbesserung des Patientenschutzes aber droht | |
> zu scheitern. | |
Bild: Werden künftig routinemäßig untersucht: Todesfälle im Delmenhorster J… | |
Hamburg taz | Die meisten Morde des Delmenhorster Krankenpflegers Niels H. | |
hätten verhindert werden können. Zu der Einschätzung ist die zuständige | |
Sonderkommission Kardio nach 34 Monaten Ermittlungen im Fall des | |
Serienmörders gekommen: Hinweise auf die Taten des 40-Jährigen waren von | |
Krankenhausleitungen ignoriert, wenn nicht sogar vertuscht worden. Zugleich | |
korrigierten die Ermittler die Zahl der Opfer auf mindestens 90. Es seien | |
84 Tote mehr, als bislang, nachgewiesen worden, hieß es bei der gestrigen | |
Bilanz zur Auflösung der Soko in Oldenburg. Einzelne Beamte werden die | |
Ermittlungen allerdings weiterführen. | |
Damit haben die polizeilichen und gerichtsmedizinischen Untersuchungen die | |
eigenen Angaben des bislang nur wegen zweifachen Mordes verurteilten Niels | |
H. bestätigt. Der Mann hatte sich im Knast als größten Serienmörder der | |
deutschen Nachkriegsgeschichte bezeichnet. Auch vor Gericht hatte er | |
pauschal 90 weitere Morde gestanden. | |
## 130 Verdachtsfälle bleiben ungeklärt | |
Soko-Leiter Arne Schmidt vermutet, dass sogar noch mehr Todesfälle auf sein | |
Konto gehen. Die jetzige Zahl sei „die Spitze des Eisberges“, denn über 130 | |
Verdachtsfälle habe man nicht weiter verfolgen können: Die Leichen waren | |
eingeäschert worden. | |
Begangen hat Niels H. seine Taten von 1999 bis zu seiner Festnahme 2005 | |
zunächst am Oldenburger, später am Delmenhorster Klinikum. Bereits in | |
Oldenburg aber hätte er gestoppt werden müssen: „Im Klinikum Oldenburg | |
wusste man um die Auffälligkeiten“, stellte der Oldenburger | |
Polizeipräsident Johann Kühme am Montag klar. Tatsächlich war dort | |
aufgefallen, dass immer, wenn H. Schicht hatte, die Zahl der Reanimationen | |
und der Todesfälle in die Höhe schnellte. | |
Ursache: Niels H. spritzte den PatientInnen ein Medikament, das | |
Herzrhythmusstörungen auslösen kann. Trat in der Folge ein Herzstillstand | |
ein, versuchte sich H. an der Reanimation. Die betrieb er wie einen Sport: | |
Er verschaffte sich Publikum, rief Lernschwestern zum Zuschauen, und ließ | |
sich Erfolgsfall als Helden feiern. Bei Misserfolg gab es einen Toten. | |
Schließlich hat man ihn zur Kündigung überredet und ihm den Abschied durch | |
ein Spitzenzeugnis versüßt, das ihn als „verantwortungsbewussten und | |
interessierten Mitarbeiter“ beschreibt. In Delmenhorst fiel man darauf | |
bereitwillig rein. Und ähnlich wie in Oldenburg hat man auch dort bei allen | |
Auffälligkeiten tapfer weggeguckt: Sechs von Niels H.s dortigen | |
Ex-KollegInnen sind bereits im Herbst angeklagt worden. In Oldenburg laufen | |
die Ermittlungen noch. | |
Das Klinikum Delmenhorst hat seither eine „qualifizierte Leichenschau“ | |
eingeführt – also dafür gesorgt, dass – statt der behandelnden Ärzte – | |
externe, rechtsmedizinisch geschulte SpezialistInnen begutachten, ob die | |
Kliniktoten Spuren einer nicht-natürlichen Todesursache aufweisen. Das | |
Pilotprojekt hatte unglücklicherweise anfangs selbst die Staatsanwaltschaft | |
auf den Plan gerufen, weil es gegen Bestimmungen des niedersächsischen | |
Leichengesetzes verstieß. | |
## Neues Krankenhausgesetz wackelt | |
Mittlerweile hat Gesundheitsministerin Cornelia Rundt (SPD) da für Abhilfe | |
gesorgt. Zugleich hat sie alle Krankenhäuser des Landes verpflichtet, | |
PatientenfürsprecherInnen zu benennen. Die gewichtigste politische Reaktion | |
auf die Mordserie droht nun allerdings auf der Strecke zu bleiben: Ende | |
März hatte ihr Ministerium den lange erwarteten Entwurf für ein neues | |
Krankenhausgesetz vorgelegt, seither wird er im Ausschuss beraten. | |
Darin vorgesehen ist die Einführung von Mortalitätskonferenzen, einer | |
schärferen Kontrolle des Arzneimittelverbrauchs sowie eines | |
Whistleblowing-Systems – lauter Maßnahmen, um, so Rundt, „in Krankenhäuse… | |
Gefährdungsmuster frühzeitig zu erkennen und etwaige Ursachen abzustellen“. | |
Jetzt allerdings haben sich die Mehrheitsverhältnisse im Landtag verändert. | |
Zwar beteuerte Rundt, sie hoffe, dass diese Gesetzesinitiative noch im | |
Landtag beraten und „wichtige Maßnahmen für einen verbesserten Schutz der | |
PatientInnen“ ergriffen werden können. Ob CDU und FDP allerdings der | |
Regierung mitten im Wahlkampf diesen Triumph gönnen, als Minderheit noch | |
ein Gesetz durchgebracht zu haben, ist indes zweifelhaft. Und sei der Zweck | |
auch noch so löblich. | |
29 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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