# taz.de -- Spielfilm „Paradies“: Balsam für die russische Seele | |
> Der Regisseur Andrei Kontschalowski erzählt in „Paradies“ von einer | |
> adeligen russischen Migrantin. Sie engagierte sich in Paris in der | |
> Résistance. | |
Bild: Prinz Kamenski (Jewgeni Ratkow), Olga (Julia Wysotzkaja) und Helmut (Chri… | |
Madame Olga Kamenskaja mangelt es nicht an lasziver Anmut und rauer Grazie. | |
Ihre gewandte Redeweise verliert sie auch dann nicht, als die Exilrussin | |
aufgrund ihres aktiven Einsatzes in der französischen Résistance – sie | |
versteckt zwei jüdische Kinder – 1942 in Fresnes ins Gefängnis kommt. | |
Ahnend, dass ihr Vernehmer, Polizeistationsleiter Jules Garnier Michaud, | |
Luxuswaren in der Regel nicht ausschlägt, spreizt die Vogue-Moderedakteurin | |
während des höflich-zynisch geführten Verhörs ihre Beine. | |
Das Angebot wird angenommen, ihr Wunsch – die Freilassung des nebenan eben | |
noch mit dem Bluthammer gefolterten Widerstandsgenossen Dmitri – wird | |
erfüllt, zuletzt darf sie sich sogar noch ihren Lieblingswein aussuchen: | |
Romanée-Conti, Jahrgang 1919. Pas mal, kann man da nur sagen. Edel geht die | |
Welt zugrunde. | |
Garnier Michaud, der explizit „bei der Polizei“, nicht „für die Gestapo�… | |
arbeitet, hat für die Geschmackssicherheit seiner Vorzugsinsassin sehr viel | |
übrig. Schließlich gehört die als Kind mit ihrer Mutter nach Paris | |
gekommene Olga zu der weißen Emigration, der vor den Bolschewiken | |
geflüchteten Russen, und ist mit Fürst Kamenski verheiratet. Eine Adelige | |
stand noch nie auf dem Frauenmenüplan des Emporkömmlings; was er aber nicht | |
versteht, ist, „warum eine russische Nobelfrau jüdische Kinder rettet“. In | |
gewisser Weise ist es diese Frage auch, der der russische Regisseur Andrei | |
Kontschalowski auf der Spur ist in seinem mittlerweile viel gekrönter Film | |
„Paradies“ (Beste Regie, Venedig 2016). Am Ende scheint er sie tautologisch | |
zu beantworten: Weil sie eben Russin ist. | |
Aus dem Tête-à-Tête zwischen der Schönen und dem Biest wird nichts. Gerade | |
noch am Ameisenhaufen bei einem Waldspaziergang dabei, seinem Erbfolger die | |
Spielregeln des Opportunismus zu erklären (denn die Deutschen hasst auch | |
er), jagt ein Résistance-Partisan dem Kollaborateur vor den Augen seines | |
jungen Sohnes eine Kugel durch den Kopf. | |
## Tschechow-Verehrer | |
Cut. Nächster Protagonist: SS-Standartenführer Helmut Karl Otto Dietrich | |
von und zu Axenberg, geboren 1915 in Berlin, Slawistik- und Jurastudent in | |
Heidelberg, wie der Regisseur Tschechow-Verehrer und stolzer Zögling | |
deutsch-militärischer Aristokratie, Haus und Eiche liebend, distinguiert | |
durch und durch auch sonst. Sein Großonkel war immerhin Nietzsches Cousin. | |
Ihn spielt Christian Clauß vom Staatsschauspiel Dresden, muss man sich | |
merken. Jakob Diehl an seiner Seite, als Freund Dietrich, kennt und liebt | |
man schon. | |
Die Kamenskaja hat er 1933 bei einer Adelsparty in der Toskana kennen | |
gelernt; das Wiedersehen erfolgt gegen Kriegsende, im Magazin eines | |
Konzentrationslagers, umgeben von Brillen- und Topfbergen, wo sie in | |
Zwangsarbeit die beschlagnahmten Güter der Häftlinge sortiert, er hingegen | |
auf höchster Ebene im Antikorruptionseinsatz ist. An der Schräge ihres | |
grazilen Nackens erkennt er Olga wieder, eine Sonderbehandlung der | |
lagerunüblichen Art ist die Folge, eine wundersam sensible heterotopische | |
Beziehung gar, bei der er sein ohnehin perfektes Russisch ebenso pflegen | |
kann wie die Hingabe für Tschechow. | |
Es ist einem ausgesprochen einfachen wie originellen dramaturgischen Zug zu | |
verdanken, dass wir so viele Details aus dem (Vor-)Leben der drei zentralen | |
Figuren in „Paradies“ erfahren, des Franzosen, des Deutschen und der | |
Russin. Kontschalowski, der gemeinsam mit Jelena Kiseljowa das Drehbuch | |
verfasst hat, unterbricht die Handlung nämlich immer wieder mit frontal | |
gedrehten neuerlichen „Verhörszenen“ im dokumentarischen Footage-Look. Die | |
Stimme aus dem Off gehört, wie sich erst am Ende des Films (angesiedelt | |
zwischen Spiritismus und Spiritualität) herausstellt, wohl irgendeinem | |
Himmelspfortenwärter. Es sind die Post-mortem-Geständnisse dreier | |
Kriegsbeteiligter, denen er lauscht. Und nur Olga, der Judenretterin, | |
gewährt er Eingang ins Paradies. | |
## Kontschalowskis Wende | |
Julia Wysotzkaja spielt diese Olga mit Bravour. Sie ist die 44-jährige | |
Gattin der Ende August dieses Jahres 80-jährig werdenden russischen | |
Regielegende Kontschalowski. Ihre gemeinsame Tochter lag nach einem | |
Autounfall für fast zwei Jahre im Koma; Kontschalowskis (quasi-)spirituelle | |
Wende wird von russischen Kritikern oft auf dieses existenzielle Erlebnis | |
zurückgeführt. | |
Doch auch jenseits dieses leicht befremdlichen Endes, das mit seinen | |
huldvoll-pastoralen Tönen nicht nur dem großartig inszenierten Realismus | |
der Konzentrationslagerbilder entgegensteht, sondern sich auch quer zur | |
Intellektualität jener feinmaschigen rhetorischen Analytik verhält, mit der | |
der vielleicht „internationalste“ aller russischen Filmemacher die | |
zynischen Gedankengänge und Mentalitätsspuren des deutschen SS-Führers und | |
des französischen Bonvivant-Polizisten seziert, bleiben Fragen offen. | |
Die dringlichste ruft dabei die Widmung im Nachspann auf den Plan. Sie | |
lautet: „Den russischen Emigranten gewidmet, den Kämpfern des Widerstands | |
gegen die nazistische Okkupation Frankreichs, die ihr Leben für die Rettung | |
der europäischen Kinder hingegeben haben.“ Soll das etwa heißen, dass die | |
Franzosen die Résistance – und die Europäer ihr Überleben – eigentlich d… | |
Exilrussen zu verdanken haben? | |
## Historisches Vorbild | |
Olga erklärt im Interview, sie sei „Russin“, „aus Russland“, | |
„russisch-orthodox“. Das Vorbild für die Rolle gab in der Tat eine | |
russische Widerstandskämpferin, die in Baku geborene und im Gefängnis | |
Plötzensee guillotinierte Fürstin Vera Obolenskaja (geb. Makarowa), genannt | |
„Vicky“. Ihrem Kenotaph auf dem Russischen Friedhof von | |
Sainte-Geneviève-des-Bois, wo – ganz nebenbei – auch Kontschalowskis | |
Jugendfreund Andrei Tarkowski begraben ist – stattete Wladimir Putin im | |
Jahr 2000 einen Besuch ab. | |
Vielleicht kann man es so sehen: Die Figur ist insofern clever gewählt, als | |
sie reichlich divergierende und auch ambivalente Konzepte eines „anderen | |
Russlands“ zusammenführt. Zu dieser Erzählung gehören: die weiße | |
Emigration, die christlich-orthodoxe Religion (die für die Obolenskaja wie | |
offenbar auch für Kontschalowski gleichbedeutend ist mit einer Haltung, die | |
Antisemitismus automatisch ausschließt – was, historisch gesehen, nicht | |
wirklich den Tatsachen entspricht, und besonders im heutigen Kontext wie | |
ein schlechter Witz klingt) sowie schließlich eine caritative, | |
selbstaufopfernde Spiritualität, die der Super-Ratio der deutschen Herren- | |
und Übermenschen ebenso überlegen ist wie dem kalkulierten Opportunismus | |
der Rest-Europäer (namentlich der Franzosen). | |
Der einstige Dissident Kontschalowski, der noch bis vor wenigen Jahren eher | |
als Widerpart denn als Gleichgesinnter seines offen | |
nationalistisch-paternalistisch auftretenden jüngeren Bruders Nikita | |
Michalkow galt, hat sich zwischenzeitlich in zahlreichen öffentlichen | |
Auftritten und Statements an die Seite jener russischen Intellektuellen | |
gesellt, die aus der Perspektive der (international wie zu Hause | |
reüssierenden) Elite der Nation versuchen, ihr Volk zu lieben und zu deuten | |
– siehe auch die aufschlussreichen aktuellen Interviews im Spiegel und der | |
Onlinezeitung dekoder. Putin-Annäherungen und Abwendungen vom kalten Westen | |
inklusive. | |
In „Paradies“, diesem filigran inszenierten und klug gebauten Film, der es | |
letztes Jahr bis zur Oscarnominierung gebracht hat, finden ein paar Fäden | |
zusammen, von denen man bisher nicht wusste, dass sie einen Teppich ergeben | |
würden. Ein Ornament, das auch als Balsam für die arg angeschlagene | |
russische Seele ist. | |
27 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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