Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Fake News aus Schorndorf: Chronik eines Shitstorms
> An den Randalen beim Volksfest in Schorndorf seien vor allem Ausländer
> schuld, meldete letzte Woche die Polizei. Es wurde gehetzt. Dann kamen
> die Fakten.
Bild: Keine Spur von Zusammenrottungen: Schlossgarten in Schorndorf
Schorndorf taz | An der Wand des Schorndorfer Burgschlosses, dort, wo am
Samstagabend nicht nur Glasflaschen zu Bruch gegangen sind, sondern auch
der Ruf einer Stadt gelitten hat, hat jemand ein Graffito hinterlassen:
„Sapere aude“, steht da in geschwungener Schrift. „Wage, dich deines
Verstands zu bedienen“, der Schlachtruf der Aufklärung. Er könnte helfen,
wenn man verstehen will, wie [1][aus Randale bei einem Volksfest] die Mär
von einem tausendköpfigen Mob aus Flüchtlingen wurde.
Es ist Sonntag, der dritte Tag des Schorndorfer Volksfestes „SchoWo“, als
das zuständige Polizeipräsidium Aalen um 16.24 Uhr meldet: Im Schlosspark
von Schorndorf hätten sich in der Nacht zum Samstag zwischen 20 Uhr und 3
Uhr bis zu 1.000 Jugendliche versammelt, „die meisten wohl mit
Migrationshintergrund“. Es sei zu Flaschenwürfen gekommen.
Ein Tatverdächtiger habe sich der Festnahme widersetzt, zahlreiche Personen
hätten sich solidarisiert und Festnahmen verhindert. Die Polizei habe
deshalb ihre Schutzausrüstung anlegen müssen. Danach seien Gruppen von 30
bis 50 Menschen durch die Innenstadt gezogen. Laut Zeugenaussagen seien sie
mit Messern bewaffnet gewesen, es sei ein Schuss „vermutlich mit einer
Schreckschuss-Waffe“ abgegeben worden.
Außerdem berichtet die Polizei an den vergangenen beiden Festtagen von vier
Fällen von „sexueller Belästigung“ – ein Iraker und drei Afghanen seien
tatverdächtig. Die drei Afghanen hätten eine Frau festgehalten und am Gesäß
begrapscht.
Als Schorndorfs Oberbürgermeister Matthias Klopfer die Meldung liest, sagt
er zu seinen Mitarbeitern: „Damit kommen wir in die ‚Tagesschau‘.“ Am
nächsten Tag führt das 40.000-Einwohner-Städtchen östlich von Stuttgart die
Twitterhitliste an, der Hashtag [2][#Schorndorf] erreicht 44 Millionen
User. Die New York Times berichtet über „Sexual Harassment in southwestern
Germany“.
Und 48 Stunden später scheint alles wieder vorbei zu sein. Dienstagmittag
in Schorndorf: Während an den Festbuden auf dem Marktplatz die ersten Biere
gezapft werden, packen die Kamerateams ein. Die Nacht zuvor ist ruhig
verlaufen, keine Spur von Zusammenrottungen junger Menschen oder
marodierender Flüchtlinge. Nur im Netz tobt der Meinungsmob noch: „Das ist
ein kleiner Jihad auf Polizei und Bevölkerung“ twittert „1zu1_Gedanken“.
„Schwabennabel“ schreibt: „Merkels verwirrte Gäste metzeln, meucheln und
wollen fickificki“.
## „Das ist Fake News“
Direkt hinter dem Marktplatz trifft sich das Koordinierungsteam des
Volksfests in einem alten Fachwerkhaus. An einem Restauranttisch sitzen
ehrenamtliche Helfer, die in khakifarbenen Westen und mit Sprechfunk von
morgens bis abends über das Stadtfest patrouillieren und für Ordnung
sorgen. Einsatzleiter Jürgen Dobler ist ein umtriebiger Mann, eigentlich
keiner, dem man so schnell die Laune verderben kann. Er hat lange beim
Radio gearbeitet und betreibt eine Kommunikationsagentur in der Stadt, ist
Kirchengemeinderat und einer der Gründer der örtlichen Flüchtlingshilfe.
Dobler sagt: „Was über die Nacht auf der Schlosswiese berichtet wird, hat
so nicht stattgefunden. Für mich ist das Fake News.“
Sie haben hier einen Ruf zu verteidigen. Bisher habe die SchoWo als eines
der sichersten Volksfeste der Region gegolten, sagt Dobler. Etwa wegen des
Schnapsverbots auf dem gesamten Fest und der engen Zusammenarbeit mit der
Polizei. „Die war immer Teil der SchoWo“, sagt er, so wie all die Vereine
im Ort, die das Fest seit fast dreißig Jahren organisieren. Geändert habe
sich das erst mit dem Ruhestand gleich zweier leitender Beamter bei der
örtlichen Polizeidienststelle.
Der neue Einsatzleiter im Revier Schorndorf war zuvor Referent beim
baden-württembergischen Innenministerium, er brachte sein eigenes
Sicherheitskonzept mit, wollte es den Festorganisatoren überstülpen. So
erzählt es der Koordinationskreis. Der Mann hatte sich in Schorndorf als
Experte für Großeinsätze vorgestellt. Nach dem Wochenende sind sich die
versammelten Vereinsvorsitzenden da nicht mehr so sicher.
## Schorndorf ist nicht München
Den Jugendtreff auf der Schlosswiese während der Festtage habe es schon
immer gegeben, sagt Dobler. „Da können die Jungen rauchen, trinken und aus
sicherer Entfernung die Alten verachten“. So war es auch am Samstag wieder.
Aber war es eine gute Idee, die Jugendlichen bis 1 Uhr hier Alkohol trinken
zu lassen, statt wie sonst gegen 23 Uhr ihre Flaschen einzusammeln? Wie
konnte bei der Polizei von „Gewaltexzessen“ die Rede sein, wenn in den
Rettungszelten des Roten Kreuzes auf dem Fest keine entsprechend Verletzten
angekommen waren?
Und dann die Pressemitteilung. Dobler, der Kommunikationsberater, zeigt auf
seinem Handy die mit roten Ausrufezeichen versehene Facebook-Meldung der
Polizei Aalen. Darunter versammeln sich schnell fremdenfeindliche
Kommentare, auch von Polizeibeamten.
Wenn man über gute Polizeikommunikation redet, wird seit dem Amoklauf von
München die Pressearbeit der bayerischen Beamten gelobt. Nur berichten,
was an gesicherten Informationen vorlag, war damals die Strategie des dafür
mit Preisen bedachten Pressesprechers Marcus da Gloria Martins. Schorndorf
ist nicht München, aber randalierende Jugendliche am Rande eines
Volksfestes sind auch kein Amoklauf. Sicher ist: Die Pressearbeit des
Aalener Polizeipräsidiums an diesem Wochenende war nicht preisverdächtig.
Es sind vor allem diese vagen Formulierungen, „wohl,“,
„Migrationshintergrund“ und die offene Frage, wie viele der tausend
Jugendlichen nun wirklich an der Randale beteiligt waren, die für
Verwirrung sorgen.
## Völlig entkoppelt
Doch der wohl entscheidende Fehler steckt ausgerechnet in einer Meldung der
dpa. Der Landesdienst meldet um 16.53 Uhr: „In der Nacht zum Sonntag
versammelten sich laut Polizei 1000 junge Leute im Schlosspark der Stadt
und randalierten.“ Daraus entsteht eine digitale stille Post: Aus den
tausend Jugendlichen wird ein Flüchtlingsmob, aus Gapschereien und
Belästigungen, die am anderen Ende des Festgeländes stattgefunden haben,
werden Vergewaltigungen und Bilder von der Kölner Silvesternacht.
Irgendwann rufen im Rathaus besorgte Eltern aus der Partnerstadt Tuscaloosa
im US-Staat Alabama an. Ihre Kinder sind in Schorndorf zum Austausch. Man
solle sie nicht mehr auf das Fest gehen lassen.
„Natürlich ist jeder sexuelle Übergriff auf einem Volksfest einer zu viel,
natürlich muss die Polizei das Gewaltmonopol behalten.“ Matthias Klopfer,
der Oberbürgermeister, hat diese Sätze in dieser Woche oft wiederholt. Dazu
auch den riskanten Satz, dass es sicher noch mehr Vorfälle gegeben habe,
die nicht angezeigt wurden. Nur: Auf welchem Volksfest kommt es nicht zu
Gewalt und Grapschereien? Und wer glaubt, dass es solche Vorfälle ohne
Flüchtlinge nicht geben würde?
Klopfer sitzt in seinem klimatisierten Büro mit Blick auf den Marktplatz.
Auf der Hauptbühne vor seinem Fenster singt gerade eine Frau in gemustertem
Kleid Lieder von Vico Torriani zum Halbplayback. Aber eigentlich sitzt der
Rathauschef hier seit Samstag in einem schalltoten Raum. Fakten, die man
vor Ort rekonstruieren könnte, haben sich völlig von dem entkoppelt, was im
Netz und im politischen Raum los ist.
## „Uns kommt jetzt keiner zu Hilfe“
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der seit einer Weile das Thema
kriminelle Flüchtlinge für sich entdeckt hat, [3][schreibt schon am
Sonntagabend auf Facebook]: „Mir völlig unbekannte Gewalt und Übergriffe
bei einem an sich friedlichen Fest. Und wieder sehr junge Asylbewerber
mitten drin.“ Ausgerechnet der Kollege Palmer, stöhnt Klopfer. Der sitzt
nur ein paar Kilometer weiter in seinem Rathaus, er ist in der Nähe
aufgewachsen, Klopfer ist mit dem Grünen per Du. „Der hätte wenigstens
anrufen und sich erst mal informieren können.“
Auch Innenminister Thomas Strobl hat nichts von sich hören lassen. Der
CDU-Mann macht stattdessen im Innenausschuss des Landtags schale Wortwitze
über den Schorndorfer OB: Der habe wohl „einen Klopfer“, hat Strobl gesagt.
„Wir brauchen von Lokalpolitikern keine Belehrungen.“
Matthias Klopfer ist nicht empfindlich, er kennt das Geschäft, schließlich
hat er bis 2006 als politischer Geschäftsführer für die
SPD-Landtagsfraktion gearbeitet. Er weiß: „Uns kommt jetzt keiner zu Hilfe,
weil man da nur verlieren kann.“ Und so schaut er nur zu, wie bundesweit
AfD-Politiker, aber auch der CDU-Mann Jens Spahn, Schorndorf zum Spielball
des heraufziehenden Wahlkampfs machen.
## „Marodierende Horden“
Die Äußerungen sind gemacht, lange bevor das Polizeipräsidium Aalen am
Mittwochabend Fakten nachliefert: 53 Straftaten gab es während der fünf
SchoWo-Tage. Neun Anzeigen wegen sexueller Übergriffe. Gegen zwei
Verdächtige mit Flüchtlingsstatus wird deswegen ermittelt, die anderen
Täter sind unbekannt. Der Auslöser der Randale am Stadtschloss waren nach
dem Polizeibericht „deutsche Jugendliche“, die von einer Gruppe
Jugendlicher, „mehrheitlich mit Migrationshintergrund“, unterstützt worden
seien. Festnahmen gab es auf der Schlosswiese nicht.
Die bewaffneten Gruppen, die durch das nächtliche Schorndorf gezogen sein
sollen, bleiben ein Phantom, die Polizei hat darüber keine weiteren
Erkenntnisse. Der Sachschaden, vor allem an Polizeieinsatzwagen, beträgt
insgesamt 2.400 Euro. Die dpa entschuldigt sich und zieht ihre Meldung
zurück.
Am Donnerstag präsentiert OB Klopfer zusammen mit dem Polizeipräsidenten
die Faktenlage auf einer Pressekonferenz und stellt sich kritischen Fragen.
Dem Livestream der örtlichen Zeitung folgen 31 Leute.
Am selben Tag postet AfD-Parteichef Jörg Meuthen seine Landtagsrede zu
Schorndorf. Er wettert gegen den „Chaosstaat“ und „marodierende Horden“…
spricht vom „Krawallwochenende von Schorndorf“. Meuthens Rede wird bei
Facebook 99.000-mal geklickt. 2.200 Facebook-Freunden „gefällt das“.
21 Jul 2017
## LINKS
[1] /!5427082
[2] https://twitter.com/search?q=%23Schorndorf&src=typd
[3] https://www.facebook.com/ob.boris.palmer/posts/1582832265089633?pnref=story
## AUTOREN
Benno Stieber
## TAGS
Boris Palmer
Volksfest
CDU Baden-Württemberg
Jens Spahn
Boris Palmer
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Stadtfest
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar zu Englisch in Restaurants: Plump den Stammtisch bedient
Der CDU-Politiker Jens Spahn echauffiert sich darüber, dass Berlins Kellner
manchmal kein Deutsch könnten. Willkommen in Europa, Herr Spahn!
Boris Palmer über Flüchtlingspolitik: „Schweigen wäre falsch“
Tübingens OB wirft Merkel unzulässigen Moralismus vor. Und er kritisiert
den Hochmut des liberalen Bürgertums und dessen Verachtung für die
ängstliche Unterschicht.
Wahlkampfstrategie von Martin Schulz: Flüchtlinge sollen sich lohnen
Der SPD-Kanzlerkandidat möchte in der Europa-Politik punkten und Italien in
der Flüchtlingskrise entlasten. Ganz neu ist sein Vorschlag nicht.
Krawall in der schwäbischen Provinz: Eskalation eines Stadtfests
Bei dem Ereignis in Schorndorf kommt es zu sexuellen Übergriffen. In der
Nacht darauf randalieren Jugendliche auf einer Schlosswiese.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.