Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neue geologische Epoche: Verflixtes Anthropozän
> Eine internationale Forschergruppe will seit letztem Jahr ein neues
> Erdzeitalter, das Anthropozän, ausrufen. Bei der Umsetzung hakt es
> jedoch.
Bild: 16. Juli 1945: In der Wüste von New Mexico explodiert die erste Atombombe
Wien taz | Müllberge aus Plastik, Kernwaffentests oder Bergbau – der Mensch
hinterlässt täglich gravierende Spuren auf der Erde. Wie gravierend diese
sind, möchte eine internationale Experten-Kommission, die [1][„Anthropocene
Working Group“], deutlich machen. Seit 2009 forscht die Arbeitsgruppe
global zu den Ablagerungen menschlicher Produkte wie Beton, Kunststoff,
Aluminium, Kohlenstoff-Partikel aus der Luftverschmutzung oder Radionuklide
aus Kernwaffentests. Seit vergangenem Jahr setzt sich die knapp 40-köpfige
Gruppe, bestehend aus Geowissenschaftlern, Humanökologen, Archäologen und
einem Anwalt für Internationales Recht, dafür ein, ein neues Erdzeitalter
auszurufen: das Anthropozän.
Die Forscher sind davon überzeugt, dass sich anthropozäne, also von der
Lebensweise des Menschen geprägte Erdschichten funktionell und geologisch
deutlich vom jüngsten Zeitabschnitt der Erdgeschichte, dem Holozän,
unterscheiden. Seit 11.700 Jahren hält sich das Holozän als geologische
Epoche. Die Bestätigung eines neuen Erdzeitalters wäre somit ein
historischer Moment.
Der Geologe [2][Michael Wagreich] von der Universität Wien gehört zu der
internationalen Forschungsgruppe. Er ist sich sicher, dass viele der
Änderungen in den Erdschichten irreversibel sind. „Und viele Parameter, wie
etwa CO2, haben den Schwankungsbereich des Holozäns eindeutig verlassen“,
sagt Wagreich.
Jüngste Forschungsergebnisse rund um den amerikanischen Mineralogen Robert
Hazen vom Carnegie-Institut für Wissenschaft lieferten weitere Zeugnisse
menschlicher Spuren auf der Erde: In einem Forschungsartikel, der im
Fachjournal American Mineralogist veröffentlicht wurde, zählten die
Forscher 208 Minerale auf, die fast oder sogar zur Gänze nur durch
menschlichen Einfluss, allen voran die Industrialisierung, entstanden sind.
Die Minerale heißen Widgiemoolthalit, Fiedlerit oder Albrechtschraufit. Sie
sind vor allem in großen Bergwerken entstanden, einige von ihnen kommen in
der Natur gar nicht vor. „Jedes dieser Minerale erzählt gleichzeitig auch
die Geschichte menschlicher Handlungen“, sagt Hazen, „vom Handel über den
Bergbau, die Fabrikarbeit, die Entwicklung von Ballungsräumen und die
Entstehung von Abfallerzeugnissen“.
Wagreich überraschen die jüngsten Ergebnisse der Mineralogen nicht. Diese
seien eher noch konservativ gedacht, wenn man an die vielen neuen
Materialien wie Plastik oder Beton denkt, die der Mensch neu in die Umwelt
bringt.
## Definierbare Epoche
Ein neues Zeitalter lässt sich aber trotzdem nicht so einfach ausrufen.
Obwohl sich die internationale Arbeitsgruppe einig ist, hakt es noch bei
der Umsetzung und der Anerkennung des neuen Erdzeitalters in den
Naturwissenschaften. Innerhalb der Geowissenschaften ist zunächst die Frage
umstritten, ob das Anthropozän überhaupt eine gültige formal zu
definierende Einheit der Erdgeschichte sein soll und kann, erklärt
Wagreich.
Einige Geologen wie Whitney Autin vom Suny-College in New York und John
Holbrook von der Texas Christian University sind der Ansicht, dass die
Schichten zu kurzlebig und zu dünn sind, um ein neues Erdzeitalter
auszurufen. Kritiker des Anthropozäns sehen darin keinen wissenschaftlichen
Terminus, sondern nur einen Begriff der Popkultur, der politisch motiviert
ist und eine Modeströmung darstellt.
Die internationale Anthropozän-Arbeitsgruppe ist sich bislang selbst noch
unsicher, wo sie den Beginn der neuen Epoche ansetzen würde. Hier gehe es
um die Frage, welches global verbreitete, gut identifizierbare Signal in
den geologischen Ablagerungen als Beginn genommen werden kann, erklärt
Wagreich. Und das ist keine einfache Frage.
Zeitalter der Erdgeschichte werden mittels eines umfassenden Regelwerks
definiert. Über die Zeitskala wacht die Internationale Stratigrafische
Kommission. Um den Beginn einer Epoche festzusetzen, wird diese meist mit
einem neu auftretenden Leitfossil markiert und definiert. Wann dieser beim
Anthropozän angesetzt sein soll, ist aber eine der am längsten diskutierten
Fragen innerhalb der Arbeitsgruppe zum Anthropozän.
Wenn man das Anthropozän mit einem anthropogenen, vom Menschen gemachten
Signal beginnen lassen möchte, stoße man auf die Schwierigkeit einer meist
exponentiell wachsenden Kurve, wo ein wirklicher Beginnpunkt nicht
festlegbar ist, sagt Wagreich. Innerhalb der Arbeitsgruppe spreche sich die
Mehrheit für einen Beginn im Zeitraum der „Great Acceleration“, also nach
der Explosion der ersten Atombombe 1945, aus.
Hierbei könnten die Plutonium-Isotope aus den Atombombenversuchen ab 1950
bis zu einer Spitze 1964 als global vorhandenes Signal und somit als
stratigrafischer Marker genommen werden. Das werde jetzt aktuell von der
Arbeitsgruppe an mehreren Stellen auf der Erde untersucht.
## Ackerbau und Viehzucht
Längst beschäftigt die Frage nicht nur Naturwissenschaftler. Die Diskussion
über das Anthropozän – der Begriff wurde 2000 vom niederländischen Chemiker
Paul Crutzen gemeinsam mit Eugene Fr. Stoermer geprägt – hat längst auch
die Kulturwissenschaften erreicht. Dirk Matejovski vom Institut für Medien-
und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf schlägt
in seinem 2016 erschienenen Paper [3][„Anthropozän und Apokalypse“
(pdf-Datei)] vor, das Anthropozän viel früher beginnen zu lassen: „Soll das
Anthropozän-Konzept ebenso ernst wie wörtlich genommen werden, dann wäre es
nur konsequent, den Beginn dieses ultimativen Eingriffs in die Ökosphäre
mit der neolithischen Revolution, das heißt, spätestens mit der
Sesshaftigkeit des Menschen und der Ausbildung von Ackerbau und Viehzucht,
beginnen zu lassen.“
Der Soziologe Jason Moore argumentiert, das Anthropozän sollte Kapitalozän
heißen, da die geologische Entwicklung durch die industrielle Entwicklung
maßgeblich beeinflusst wurde. Der Philosoph Jürgen Manemann spricht sich in
seinem Buch [4][„Kritik des Anthropozäns“] angesichts des globalen
Klimawandels für eine neue Humanökologie, jenseits des Anthropozentrismus,
aus.
Die Frage nach dem Beginn des Anthropozäns sei nach außen hin natürlich die
interessanteste und spekulativste, sagt Wagreich. Der Beginn sei für die
internationale Forschungsgruppe aber eher nur eine „pragmatische“ Frage.
„Da es vorwiegend anthropogene Ablagerungen und Signale sind, die wir
sehen, ist der Begriff von geowissenschaftlicher Seite angebracht und
verwendbar“, sagt Wagreich.
Sollte das Zeitalter Anthropozän von der gesamten Scientific Community
angenommen werden, glaubt der Forscher, würde dies den globalen Wandel als
Tatsache etablieren, der in den geologischen Archiven und den abgelagerten
Schichten angekommen ist: „Leugner des Klimawandels hätten dann zumindest
schlechtere Karten.“
8 Jul 2017
## LINKS
[1] https://theanthropocene.org/topics/anthropocene-working-group/
[2] https://geologie.univie.ac.at/sedimentology-stratigraphy/academic-staff/mic…
[3] http://www.cssa-wiesbaden.de/fileadmin/Bilder/B%C3%BCcher_Brosch%C3%BCren/P…
[4] http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2773-2/kritik-des-anthropozaens
## AUTOREN
Manuela Tomic
## TAGS
Anthropozän
Atombombe
Ackerbau
Anthropozän
CO2
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimawandel
Kapitalozän
München
Silvester
Anthropozän
Deutschlandradio
## ARTIKEL ZUM THEMA
Epoche des Menschen: Explosiv ins nächste Zeitalter
Der Beginn einer neuen Epoche der Erdgeschichte soll diesen Sommer
beschlossen werden. Das Anthropozän soll zeitgleich mit der Atombombe
beginnen.
Mögliche Lösung für geologisches Rätsel: Junge Erde war ein Mega-Treibhaus
Die Erde war im Archaikum trotz Sonnenmangel nicht vereist. Laut einer
Studie ist der Grund für die hohen Temperaturen eine Riesenmenge CO2.
Nobelpreisträger Paul J. Crutzen ist tot: Der sanfte Weltenretter
Er „entdeckte“ das Ozonloch und prägte den Begriff des Anthropozän. Der
Jahrhundert-Wissenschaftler und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen ist tot.
Klimawandel zur Kolonialzeit: Kolumbus und die Kleine Eiszeit
Der Mensch griff lange vor der Industrialisierung in das Klima ein,
beweisen Forscher aus London. Im Grunde ist Christoph Kolumbus schuld.
Kolumne Kapitalozän: Von Söhnen und Hurensöhnen
Die FDP könnte vom Linkssein gelangweilte Linke als neue Wählerschicht
ansprechen. Was also tun, wenn mein Kind ein Neoliberaler wird?
Ausstellung im Deutschen Museum: „Auf Wiedersehen im Anthropozän“
Eine Kernfrage der Anthropozän-Ausstellung ist: Wird es dem Menschen
gelingen, sich vom Parasiten der Erde zu dessen Symbionten zu verwandeln?
Leiter des HKW über Zeit: „Das Rad immer schneller drehen“
Schon wieder ein Jahr rum? Bernd Scherer, Leiter am Berliner Haus der
Kulturen der Welt, über Beschleunigung, Zeitzonen und Kipppunkte von
Entwicklungen
„Anthropozän-Projekt“ in Berlin: Der Umbau der Erde
Eine Wissenschaftstagung im Rahmen des Berliner „Anthropozän-Projekts“ geht
der Frage nach, wann das Menschenzeitalter begonnen hat.
Klangkunst von Werner Cee im Radio: Durch GEZ ins künstliche Paradies
In dem Zeitalter „Anthropozän“ formt der Mensch die Natur. SWR 2 und
DKultur machen das hörbar. Gut, dass die Öffentlich-Rechtlichen auch dafür
Platz haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.