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# taz.de -- Blumen der Scham: Zum Abschied keine Nelken
> Was die Blumen fürs Auge sind die Würdigungen fürs Ohr. Nur können Tote
> weder sehen noch hören. Stimmt alles mit der Trauerkultur?
Bild: Maike Kohl-Richter betrachtet die Blumen, die vor dem Haus in Oggersheim …
Da, der Koloss geht. Jetzt wird er beerdigt. Eine Auferstehung ist nicht
gewünscht, wie auch nicht beim Koloss von Rhodos, der vor mehr als
zweitausend Jahren bei einem Erdbeben am Knie (wo sonst?) brach,
zusammenfiel und in Stücke zerschlug. „Was gut liegt, soll man nicht
bewegen“, lautete der Orakelspruch, deshalb verzichteten die Rhodier
darauf, ihn wieder aufzubauen. Eines der sieben Weltwunder war der Koloss
von Rhodos, diese über 30 Meter hohe Statue.
Es ist nicht abwegig zu glauben, mit dem Koloss sei hier in diesem Text
Helmut Kohl gemeint. „Die kolossale Figur“ (Bild). Der „Koloss der
Gemütlichkeit“ (Spiegel). „Ein Koloss, der für Frieden stand“ (MAZ),
„dieser Koloss vom Rhein“ (arte). Die, die ihn mit einer Birne verglichen,
„unterschätzten ihn kolossal“ (Deutschlandfunk). Koloss, kolossal – die
Worte schmelzen auf den Zungen.
Auch Kohls Schwachstelle im Alter war das Knie. Bei einer drittklassigen
Veranstaltung in einem Berliner Shopping-Center habe ich ihn das einzige
Mal live gesehen. Da war er schon nicht mehr auf der politischen Bühne, war
ausgemustert, ging schleppend und schwer. Mir kam er nicht wie ein Koloss
vor, eher wie ein Elefant, der in seinem grauen Anzug auf die Bühne
geschoben wurde und dann etwas sagte, das nichts bedeutete. Eine Zoonummer
– würdelos und tragisch.
Jetzt aber ist er tot. Sein Sarg wird überhäuft mit Phrasen und Blumen. Die
Wortbouquets sind monumental, die Blumenbouquets überbordend, aufgetürmt zu
Bergen, mit Kränzen, größer als die, die Cäsar einst auf dem Kopf trug. Da
wird viel Rot sein, viel Gelb, viel fast schwarzes Grün. Einzelne Blüten
werden untergehen im vielen: Gerbera, Helenium, Calla, Kokardenblume,
Flamingoblumen, Rudbeckien, Phlox, Lilien, Sonnenblumen, Lobelien, Fresien.
Geht’s verschwenderischer? Knallrote Gladiolen wahrscheinlich auch schon.
Nur Nelken – die Blumen der Liebe und der Linken, der Luxemburgs und
Liebknechts – eher nicht.
Zyniker seien Menschen, die, wenn sie Blumen sehen, nach dem Sarg Ausschau
halten, sagt ein Sprichwort.
## Überlappende Elogen
Und was die Elogen auf Kohl angeht: Da liegen die Worte nun aufeinander,
übereinander, überlappen sich, wiederholen sich: Kanzler der Einheit. Vater
des Euro. Er gestaltete Weltgeschichte. Ehrenbürger Europas, ewiger
Kanzler, „Sitzriese“ (Freitag). „Kanzler der Herzen“ (Cicero).
Dickbrettbohrer. Ein Patriot – einer der letzten. „Er war Bundeskanzler,
als Deutschland sein Lächeln wiederfand.“ (RP). Viel konkrete Politik und
private Dramen werden zu Fußnoten gerinnen „gegenüber der historischen
Leistung des großen Bundeskanzlers“ (Berliner Zeitung). Groß, größer,
großartig, groß an Größe.
Kohl hat von all dem nichts mehr. Was dem Auge die Blumen sind, sind dem
Ohr die Würdigungen. Nur: Die Toten sehen und hören sie nicht. Wieso macht
man es dann?
Archäologen der Universität von Haifa fanden heraus, dass es am Mittelmeer
schon vor 13.000 Jahren Kulturen gab, die ihre Verstorbenen in den Gräbern
auf Blumen betteten. Sie untersuchten Begräbnisstätten der sogenannten
Natufien-Kultur in Höhlen des Karmelgebirges in Israel. Es soll die erste
Kultur gewesen sein, die in der Region Friedhöfe anlegte. Die Forscher
fanden Spuren von Salbei, von Minze – und in manchen Gräbern auch reicher
Blühendes, was auf ein Begräbnis im Frühjahr hinweist. Die Wissenschaftler
um Dani Nadel interpretieren ihre Erkenntnis so: Blumen könnten bei einer
Beerdigung geholfen haben, die Gruppenidentität und die Solidarität
untereinander zu stärken und soziale Spannungen zu reduzieren.
Was umgekehrt bedeutet, dass sich die Trauernden erst mit dem Verstorbenen
versöhnen und mit seiner Gruppe solidarisieren konnten, wenn einer endlich
tot war. Warum nicht früher? Warum gab es weder Blumen, noch Versöhnung,
noch Solidarität zu seinen Lebzeiten? Der Tote, ein Menschenopfer – ohne
extra geopfert worden zu sein, was immerhin Entwicklung anzeigt.
„Der Duft der Blumen ist weit süßer in der Luft als in der Hand“, soll
Francis Bacon gesagt haben. Wie geruchlos erst im Grab?
So viel indes wird durch die Forscher bestätigt: Die Blumenbouquets und
auch die Wortbouquets, die über die Verstorbenen geschüttet werden, sind
gar nicht für die Verstorbenen, sie sind für die Lebenden. Allerdings ist
in einer Gesellschaft, die 13.000 Jahre später auf Individualität setzt,
offen, ob die ins Grab geworfenen Blumen und die Würdigungen und die
Nachrufe noch eine sinnstiftende Bedeutung für die Gruppe haben.
## Blumen, Kränze, Worte
Vielmehr steht zu vermuten, dass Blumen und Kränze gekauft und Lobesworte
gesprochen werden, weil man es halt so macht, weil man es immer schon
gemacht hat. Und weil das schlechte Gewissen rumort, da für einen Großteil
der Gruppe, außer vielleicht den engen Angehörigen, der Verstorbene schon
zu Lebzeiten tot war. Man hätte ihn ja sonst besuchen können, ihm Blumen
mitbringen, ihn erfreuen, ihm sagen können, wie gut man fand, was er
leistete, und womit man nicht einverstanden ist. Ein Gespräch halt, etwas
sehr Wertvolles. Es macht uns zu Menschen.
Weil man das nicht tut, ist die Kultur der Nachrufe eine zwiespältige
Angelegenheit. Sie zementiert, dass man nicht mehr mit jemandem spricht,
sondern über ihn. (Genau das wiederum soll doch ein Tabu im Gespräch unter
Lebenden sein.) Zudem fordert die Kultur der Nachrufe zur
Geschichtsklitterung auf – wahrscheinlich aus dem gleichen schlechtem
Gewissen: über die Toten nur Gutes.
Die Forderung hier ist deshalb so einfach wie klar: Schenkt den Lebenden
die Blumen und sagt ihnen, was ihr an ihnen schätzt.
## Das Eigene, ohne Scham
Eine Situation aber gibt es doch, in der Blumen als Mittel der Trauer
funktionieren und die Gruppenidentität stärken, ganz im Sinne des
Forscherteams von der Universität in Haifa. Dann nämlich, wenn Menschen
durch äußere Gewalt sterben – bei einem Unglück, einem Anschlag. Dann wird
das anonyme Blumenmeer ein Statement für das, wofür eine Zivilisation
stehen will: für Frieden, für Integrität, für Zuwendung und Zuneigung.
Für Liebe – den anderen gegenüber. Auch für Betroffenheit, weil es einen an
die eigene Endlichkeit erinnert. Da ist es wieder: das Eigene, das dem
Blumengruß zugrunde liegt. Dieses Mal ganz ohne Scham. „Die Blume ist ein
Wort, ein Ausdruck, ein Seufzer aus voller Brust“, sagte die romantische
Schriftstellerin Bettina von Arnim.
Ach, übrigens: Der Koloss von Rhodos stellte niemanden Geringeren dar als
Helios, den Sonnengott. Nicht wir schenken ihm die Blumen, er schenkt sie
uns. Das zumindest könnte die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl zu
Lebzeiten meinte versprechen zu können, erklären.
24 Jun 2017
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
Nachruf
Helmut Kohl
Staatsakt
Blumen
Helmut Kohl
Minority Report
CDU
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