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# taz.de -- Reisen in Mitelamerika: Schön ist Nicaragua
> Eine symbolische Geschichte vom Aufbruch und Wandel des
> mittelamerikanischen Landes: die Erfolgsstory des Bierbrauers José Marcel
> Sánchez.
Bild: Auf dem Nicaragua-See
Alles beginnt vor vier Jahren in einer Küche. In der landläufigen Küche
seines Elternhauses im Dorf Dolores, ein paar Kilometer von der
Panamericana entfernt in Nicaraguas südwestlichem Inland. José Marcel
Sánchez, damals 28 Jahre alt , ist kein Koch, der am Herd steht, sondern
promovierter Mikrobiologe mit Lust auf Experimente. Dank eines Stipendiums
hat er in Seattle studiert. Nach der Rückkehr in seine Heimat, eines der
ärmsten Länder Lateinamerikas, ist er auf dem harten Boden der Realität
aufgeschlagen. Jobs sind Mangelware.
Einige Zeit hat er sich mit der Arbeit in einem Callcenter über Wasser
gehalten, während ein Traum in ihm reift: Er will Handwerksbierbrauer
werden, der erste im Land. Nachteil: Er hat von Hopfen und Malz keine
Ahnung. Zumindest zwei Voraussetzungen brachte er mit, erzählt er in
Rückschau: „Als Mikrobiologe kannte ich mich mit Formeln aus. Und ich
mochte Craft Beer, das ich in Seattle kennengelernt hatte.“
In besagter Küche experimentiert er nach Quellenstudien und dem
Learning-by-Doing-Prinzip so lange in der Herstellung von Bier, bis ihn die
Resultate zufrieden stellt. Er überzeugt seinen Schwager von der
Geschäftsidee, erkämpft sich bei der Bank einen Kredit als Start-up und
gründet das Unternehmen „Moropotente“, was „potenter Maure“ bedeutet.
Eine augenzwinkernde Hommage an seinen Urgroßvater, der aus Südspanien
stammte und wegen seinen dunklen Teints nur „der Maure“ genannt wurde und
laut Sánchez „30 Kinder zeugte“. Dies, so ergänzt er lachend , „allerdi…
nicht mit der selben Frau.“
Inspiration für junge Leute
Die Produktivkraft hat Sánchez also also geerbt, obgleich auf anderem
Gebiet. Im Schuppen hinter seinem Elternhaus baut er eine
Zwei-Raum-Brauerei samt Labor und Warenlager auf. Er initiiert den Import
von Maschinen und Ingredienzen, entwickelt mit Helfern den Prototyp einer
Flaschenabfüllanlage. Restaurants und Kneipen avancieren zu ersten Kunden,
er erhält den Nationalen Innovationspreis.
Mittlerweile ist sein Unternehmen umgezogen und gibt knapp drei Dutzend
jungen Leuten aus der Gegend Beschäftigung. „Das hat sie vor der Emigration
nach Costa Rica bewahrt“, sagt José Marcel, der die Abwanderungen zum
ungeliebten Landesnachbarn kennt. „Wir haben ein Geschäftsmodell
entwickelt, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Mehr als nur Bier zu
produzieren, füllen wir Inspiration ab“, erklärt er etwas pathetisch.
Inspiration, die dem einst revolutionären Nicaragua in der aktuellen
Politik völlig abgeht. Auffällig sind die Plakate der Sandinistenregierung.
Präsident Daniel Ortega rückt in Heldenmanier die Hand gen Himmel, daneben
posiert seine Frau. „Nicaragua ist aktuell eine Diktatur von einem Ehepaar
und deren Kindern“, hat auch der Dichter Ernesto Cardenal kürzlich in einem
Interview über den Ortega-Clan gesagt und hinzufügt: „Was die Zukunft
bringen wird, weiß ich nicht. Ich wünsche nur, dass diese Diktatur endet.“
Der Bierbrauer Sánchez hält sich beim Thema Politik bedeckt: „Jedes Volk
bekommt die Regierung, das es verdient. Wenn es Probleme gibt, sind
Regierung und Opposition gleichermaßen dafür verantwortlich.“ Frei von
politischen Einflüssen, dafür „in einer Atmosphäre des Respekts und der
Toleranz“, so Sánchez, habe er bewiesen, was sich mit Initiative,
Beharrlichkeit und dem Glauben an sich und seine Ideen auf die Beine
stellen lässt. Mittlerweile hat die monatliche Produktion seiner
Handwerksbrauerei 10.000 Liter erreicht.
Der Kick
Sánchez hat vorgemacht, wie es geht. Er ist Symbol des Wandels und
Aufbruchs in Nicaragua, in einem Land, das gerade dabei ist, sich einen
Platz auf der touristischen Landkarte Mittelamerikas zu erkämpfen. „Im
Tourismus liegt die Zukunft“, bekräftigt Antonio Armas Ocón, Vorsitzender
der touristischen Vereinigung Antur. Er beziffert die Zahl der Besucher auf
gegenwärtig 1,4 Millionen pro Jahr. Tendenz stark steigend. „Vulkane und
Seen geben Potenzial, Naturparks, Strände, sehenswerte Kolonialstädte,“
sagt Ocón.
Eine der schönsten ist León, die Stadt der Kirchen, angeführt von der zum
Weltkulturerbe erhobenen Kathedrale, deren Dachbereiche betretbar sind.
Allerdings nicht mit Schuhen, wie das handgeschriebene Schild am Zugang
anmahnt. So bleibt nur, barfuß oder auf Socken an die Balustraden zu gehen,
um die Blicke über die Ziegeldächer der Stadt hinweg bis zum Vulkan Cerro
Negro schweifen zu lassen. In der Ferne buckelt sich der „Schwarze Berg“ in
konischer Musterform. Fährt man dort hin, kann man den größten Kick
Nicaraguas erleben: Sandboarding auf Vulkanasche. Bevor’s in Schussfahrt
Nicaragua Die Erfolgsstory des Bierbrauers José Marcel Sánchez ist eine
symbolische Geschichte von Aufbruch und Wandel des darbenden Landesabwärts
geht, gilt es, das etwa acht Kilo schwere Board eine Stunde lang selbst auf
den Gipfel zu schleppen. Kein Tourveranstalter stellt Sherpas, sondern nur
Guides und Zubehör, zu dem Schutzanzug und Schutzbrille zählen.
Das Board gleicht einer ausgemusterten Schranktür, die auf die
Sperrmüllabfuhr wartet. Einzige Unterschiede: Das Brett trägt an der
Unterseite Metallbeschläge, damit es besser gleitet, und obendrauf eine
Kordel mit Handgriff. „Wenn ihr die Kordel wie einen Zügel beim Pferd
anzieht, um es zum Stehen zu bringen, werdet ihr umso schneller“, warnt
Begleiterin Marjiory und mahnt an, ganz hinten in aufrechter Haltung zu
sitzen und mit beiden Füßen gleichzeitig zu bremsen. „Sonst kippt ihr um,
und das kann üble Schürfwunden geben“, trichtert Marjiory ihren
Schutzbefohlenen ein.
Steht man oben am Abgrund, der einer Dachschräge zur Ehre gereicht, rutscht
das Herz in den Overall. „Alles nicht so schlimm“, glättet Marjiory die
Wogen der Aufregung, während hinten der Pazifik glitzert. Dann geht’s ab in
den Rausch der Tiefe. Es knirscht und knackt und staubt. Rundherum fliegen
Lavapartikel weg. Ständig klackt es auf der Schutzbrille. Die Haltung
verkrampft, der Magen ebenso. Pures Adrenalin. Auslauf, Ende der Gleitzeit.
Ein Minutenerlebnis, unfallfrei. Das Gesicht ist geschwärzt. Das Haar fühlt
sich an wie Stroh.
Suche nach dem Zeitgeist
Der Sandboarding-Trip auf Vulkanasche ist typisch und untypisch zugleich
für Nicaragua. Untypisch, weil Nicaragua eigentlich von seiner
Authentizität lebt. Typisch, weil mit dem Tourismus ein neuer Zeitgeist
weht, der auf künstliche Outdoorspektakel setzt, bei der unverkennbar
US-Einflüsse hineinwirken.
Viele sehen in Nicaraguas beliebtestem Pazifikstrandort San Juan del Sur
und in der Kolonialstadt Granada bereits jetzt die Gefahr, dass sich „die
Dinge amerikanisieren“, obgleich dieser Prozess sicher langsamer
voranschreite als andernorts in Zentralamerika. Obgleich der Tourismus in
Nicaragua eher in den Anfängen steckt, fallen hier und da bereits
aufgestellte Trinkgeldboxen auf. Und stolze Preise, gemessen am
Pro-Kopf-Einkommen, das im Schnitt unter 2.000 US-Dollar pro Jahr liegt.
Nahe Granada sind Bootsausflüge durch den Archipel der Isletas de Granada
im Nicaraguasee auf zahlungswillige Ausländer zugeschnitten. Wer durch die
Inselwelt tuckert, erlebt widersprüchliche Welten. Einerseits ärmliche
Fischer auf Beutefang, Reiher, kürbisartig herabhängende Nester von
Montezumastirnvögeln, unverfälschte Natur. Zum andern Inselchen mit
stattlichen Anwesen der nationalen Geldelite.
Eines steht gerade zum Verkauf. „340.000 Dollar“, gibt Käpten Juan Carlos
den Preis an seine Gästefracht weiter. Zurück in Granada, kippt der
Schalter wieder auf den Modus Vergangenheit um. Auf den Hauptplatz, mit
seinem Grün und der Kathedrale der schönste im Land, dringen plötzlich
ungewöhnliche Töne, die man für ausgestorben gehalten hätte. Nein, es ist
nicht das Hufgeklapper der Pferdekutschen.
Es ist ein „Tak, tak, tak“, das durch die Arkaden hallt. Die Neugier treibt
zu den Urhebern. Die Türen stehen offen, dann hört und sieht man sie vor
Regalen, die sich unter Aktenbergen biegen: Beamtinnen in einem
Großraumbüro der Verwaltung. Jede klappert auf ihrer Schreibmaschine. Tak,
tak, tak.
## In der Zeitblase
Manches, so scheint es, hat sich in einer Zeitblase ins dritte Jahrtausend
katapultiert. Maultier- und Eselfuhrwerke holpern selbst über die
Panamericana, Ochsenkarren über Land. Altersschwache Linienbusse glaubte
man bereits in Museen. Überall blüht ein bunter Straßenhandel. Und in den
Tabakfabriken um das nördliche Städtchen Estelí ist alles Handarbeit
geblieben. Jede Zigarre wird unter Frauen- und Manpower einzeln gerollt und
geprüft.
Fest steht: Wer das landschaftlich schöne Nicaragua erleben will, sollte
nicht zu lange warten. Der geplante Bau des Nicaragua-Kanals könnte zu
gravierenden Umwälzungen und Veränderungen führen. Doch das ist eine andere
Geschichte.
6 Aug 2017
## AUTOREN
Andreas Drouve
## TAGS
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