# taz.de -- Hommage an Dirigent Jeffrey Tate: Pazifist am Dirigentenpult | |
> Für den jüngst verstorbenen Chefdirigenten der Hamburger Symphoniker war | |
> Musik auch ein Aufruf zur Zivilcourage. Jetzt ist ihm ein | |
> Abschiedskonzert gewidmet. | |
Bild: Der Chefdirigent der Hamburger Symphoniker, Sir Jeffrey Tate, sitzt am 28… | |
Hamburg taz | Eigentlich sollte es ein luftiges Sommerkonzert werden. Ein | |
rein französisches, mit Werken der Zeitgenossen Henri Dutilleux und | |
Marc-André Dalbavie sowie mit Claude Debussys symphonischen Skizzen namens | |
„La Mer“ (Das Meer). Eine federleichte Einstimmung auf die Sommermonate | |
hätte das kommende Konzert der Hamburger Symphoniker werden können, das | |
letzte vor den großen Ferien. Doch aus dem impressionistischen Flirren ist | |
ein Abschied geworden. Jeffrey Tate, international gefragter Chefdirigent | |
der Symphoniker seit 2009, kann das zehnte Symphoniekonzert nicht mehr | |
selbst dirigieren: Der so freundliche wie bescheidene Brite ist, 74-jährig, | |
am 2. Juni in Turin am Herzinfarkt gestorben. | |
Nun wird der Erste Gastdirigent Ion Marin den Abend leiten – ein | |
symbolbeladenes Konzert, dessen Pathos eher zu Tates Jugend als zu seinen | |
reiferen Tagen zu passen scheint. Schuberts Unvollendete wird das 2013 vom | |
Hamburger Senat entschuldete Orchester spielen, neben | |
NDR-Elbphilharmonikern und Philharmonischem Staatsorchester dritter | |
Klangkörper am Platze. Zudem erklingt Mahlers letzte vollendete Sinfonie – | |
die Neunte – sowie zwei Arien aus Bachs h-Moll-Messe. | |
Vor allem die Wahl der Sinfonien hat Symbolwert, schuf doch, wie Arnold | |
Schönberg einmal anmerkte, fast kein Komponist mehr als neun Sinfonien. | |
Jeffrey Tate hat es 2017 auf neun von zehn Symphoniekonzerten gebracht; | |
eine von den Programmmachern wohl gewollte Parallele. | |
Aber das ist Kabbalistik, und Tate hätte solche Zahlenmagie kaum goutiert. | |
Nicht mal einen Schöpferglauben; dass er weder an Gott noch ans Jenseits | |
glaube, hat er schon vor Jahren erklärt: „Ich glaube, dass wir schlicht | |
verschwinden und uns mit dem Nichts vereinen.“ Das hat er 2009 gesagt, 18 | |
Monate, nachdem er dem Tod knapp von der Schippe gesprungen war. Als Tate | |
damals aus dem Koma erwachte, verstand er, „dass der Tod – in diesem Fall �… | |
viel bequemer war, als ich dachte. Ich hatte gar nichts davon bemerkt.“ | |
## Arzt geworden aus Dankbarkeit | |
Mit Krankheit und Tod hat sich Tate, der „alles zwischen Haydn und Adès“ | |
liebte und ein angeborenes Wirbelsäulenleiden hatte, stets befasst. Aus | |
Dankbarkeit dafür, dass ihn Ärzte vorm Rollstuhl bewahrten, ist er sogar | |
zunächst Augenarzt geworden: „Ich empfand eine Art Bringschuld.“ Und obwohl | |
er zwei Jahre später umschwenkte und als Korrepetitor an einer Oper begann, | |
hat er seine kurze Arztkarriere nie bereut. Sie habe ihm die | |
gesellschaftliche Bedeutung von Musik bewusst gemacht: „Der soziale Status | |
der Ärzte ist unangetastet, sie tun etwas sehr Wichtiges. Da könnte man | |
leicht denken, dass Musik nur Dekoration sei.“ Dabei mache Musik „die Seele | |
schön“. | |
Was fehlte in Tates Leben, war das Politische. „Ich halte es für ein großes | |
Versäumnis, dass ich mich politisch nicht engagiert habe“, fand er. Das | |
Potenzial habe er gehabt: 1962, bei der Uraufführung von Benjamin Brittens | |
„War Requiem“ in der 1940 von Deutschen zerstörten, neu aufgebauten | |
Kathedrale von Coventry, sei er – den Vietnam-Krieg im Blick – radikaler | |
Pazifist gewesen. Und sehr beeindruckt von Brittens Werk, das die Begegnung | |
verfeindeter Soldaten im Jenseits inszenierte und mitten im Kalten Krieg | |
auf deutsch-englische Versöhnung setzte. | |
Wie um das fortzuführen, hat Jeffrey Tate das Requiem gleich zu Amtsantritt | |
– 70 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – in Hamburg spielen | |
lassen. Als in Deutschland lebender Brite sandte er damit auch eine | |
persönliche Botschaft. Diese Musik war für ihn eine Aufforderung zur | |
Zivilcourage, ähnlich wie 2016 das Open-Air-Konzert in einer Hamburger | |
Flüchtlingsunterkunft. Nie ging es ihm dabei um die Bevormundung von | |
Musikern oder Publikum. Sondern um den Impuls, auf den nach Konzertende | |
zunächst die Stille folgt. | |
## Wohlige Wortlosigkeit | |
Ohnehin schätzte er Werke, die „im Nichts enden, einfach verschwinden“. | |
Dieser wort- und klanglose Moment, in dem die Zeit stehen bleibt, war für | |
Tate nicht nur Allegorie des Todes, sondern auch „ein konzentrierter | |
Moment, den ich sehr beglückend finde“. Ein Genuss aus Ratio und Gefühl, | |
schwer bis unmöglich in Worte zu fassen. | |
Diese Wortlosigkeit atmet auch Mahlers Neunte, die jetzt für ihn erklingt. | |
Wie Schuberts „Unvollendete“ und Bachs h-Moll-Messe beschwört Mahlers | |
Sinfonie Abschied und Tod. Bizarre Koinzidenz: Thomas Hengelbrock, Chef des | |
NDR-Elbphilharmonieorchestes hat kürzlich gesagt, man höre in Mahlers | |
Neunter „quasi zwei Herzinfarkte im ersten Satz“. | |
Auch dass die Symphoniker ausgerechnet den Schlusssatz spielen, der das | |
englische Kirchenlied „Abide with me“ (Bleib bei mir, Herr) präsentieren, | |
ist kein Zufall; ebenso wenig, dass das Werk, ganz in Tates Sinn, nicht mit | |
einem Gotteslob endet, sondern leise verklingt. Kurz vor seinem Tod hatte | |
er das Stück übrigens beim Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI in Turin | |
dirigiert, sein musikalisches Testament geschrieben. | |
Tates Mann, der Geomorphologe Klaus Kuhlemann, und die Symphoniker begehen | |
die Trauer über Tates Tod, den Prinz William noch im April zum Ritter | |
schlug, auf je eigene Weise. Der Nachruf der Symphoniker-Homepage etwa | |
endet mit dem Satz: „Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des | |
ewigen Lebens.“ Es ist eine traditionelle jüdische Grabinschrift. Ein | |
letzter Gruß des in Israel geborenen Symphoniker-Intendanten Daniel Kühnel | |
an seinen „Maestro“. | |
Konzert: So, 18.6., 19 Uhr, Laeiszhalle, Hamburg | |
16 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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