# taz.de -- Neuer Dirigent: Am schönsten ist die Stille | |
> Stücke, die im Schweigen enden, mag er am liebsten. Das seien große | |
> Momente der Konzentration, findet Jeffrey Tate. Er ist der neue | |
> Chefdirigent der Hamburger Symphoniker. Im Herbst gibt er mit ihnen sein | |
> erstes Konzert | |
Bild: Zeichnet die Architektur der Musik mit den Händen nach: Symphoniker-Chef… | |
Nein, sagt Jeffrey Tate, nur für sich selbst zu musizieren, sich eine | |
schöne Zeit zu machen - das wäre nichts für ihn. "Dann hätte ich die ganze | |
Zeit ein ungutes Gefühl." Tate möchte, dass Musik auch auf andere wirkt. | |
Dass sie eine soziale Funktion erfüllt, und das sagt er nicht nur daher: | |
Der im September beginnende neue Chefdirigent der Hamburger Symphoniker | |
will, "dass die Zuhörer nachdenken über die Stücke." Dass sie nicht nur | |
deren Stimmung erfassen, sondern auch das Thema; nicht schwer bei Brittens | |
War Requiem, schon schwieriger bei Schuberts Unvollendeter. | |
"Musik soll kein Klangbrei sein", sagt der drahtige Brite, der auf Wunsch | |
der Eltern zunächst Medizin studierte. "Alle Stücke behandeln irgendeine | |
Form menschlicher Aktivität, und diesen Tenor kann jeder erfassen", sagt | |
er, der ausdrücklich wünscht, dass auch musikalisch weniger Informierte | |
seine Konzerte besuchen: "Ein Konzert kann Anlass sein, über inneres | |
Erleben zu reflektieren." | |
Dabei will Tate vor allem eins: Intensität. Er will kommunizieren. | |
"Entertainment", sagt er, "ist mir zuwider." Auch Oberflächlichkeit und die | |
viel beschriene Wortlosigkeit in puncto Musik. Er weiß zwar, das man | |
musikalisches Erleben schwer beschreiben kann. Aber er versteckt sich nicht | |
hinter der Unzulänglichkeit der Sprache und benennt so viel wie möglich. | |
Dabei ist er stets ehrlich: Er hat Grenzen, und er formuliert sie klar. | |
Etwa in puncto Moderne. Da reicht seine Musizierlust bis zu Thomas Adès und | |
Peter Ruzicka. "Aber die Darmstädter Schule neuer Musik bereitet mir | |
Probleme", sagt er. Da gebe es Stücke, die er ästhetisch schätze, zu denen | |
er aber keinen emotionalen Zugang finde. | |
Die Form auch der modernen Stücke bereitet ihm dabei keine Probleme: "Der | |
mathematische Zugang zu Musik - das sorgsame Ausloten der musikalischen | |
Architektur - bereitet mir Freude", sagt er. "Ich bin ein Kopfmensch und | |
gehe sehr klar an Musik heran." Hieraus erwachse auch das ästhetische | |
Vergnügen: daraus, dass man das Zusammenspiel der Einzelteile begreife und | |
dessen Ästhetik erfasse. | |
Ein Dirigent also mit rein rationalem Zugang zu Musik? "Nein", sagt er. | |
"Ratio und Gefühl sind eine Einheit für mich." Wo sich aber intellektuelles | |
und emotionales Vergnügen treffen, kann er nicht sagen. "Das ist ein | |
Genuss. Es ist, was es ist, wie andere, tiefe Gefühle auch", sagt er und | |
lächelt. Welche Epochen ihn also am stärksten erfreuen? "Alles bis | |
rückwärts zu Haydns Frühwerk", sagt er. "Das ist für mich die Grenze. Auch | |
Bach und Händel würde ich nicht mehr spielen", sagt er. Jedenfalls nicht | |
mit jenen modernen Sinfonieorchestern, die er im In- und Ausland dirigiert. | |
"Dafür hat sich die historische Aufführungspraxis zu stark durchgesetzt - | |
mit alten Instrumenten und kleinen Ensembles. Die Menschen haben an diesen | |
schlanken Klang gewöhnt. Es gibt da viele gute Orchester, mit denen ich | |
nicht konkurrieren will." | |
Außerdem sei er in einer Zeit aufgewachsen, in der sämtliche Komponisten | |
romantisch-wuchtig gespielt wurden, und das habe ihn geprägt. "Und um Bachs | |
h-Moll-Messe so transparent zu spielen, wie es dem heutigen Klangideal | |
entspricht, habe ich noch zu stark die Klänge aus meiner Jugend im Ohr." | |
Dabei spiele er auch einen Mozart durchaus "schärfer, leichter und | |
schneller als vor 20 Jahren". Auch Brahms gibt er nicht so pompös wie | |
damals - aber zu seinen Lieblingskomponisten zählt der immer noch. | |
Vielleicht ist Tate doch ein bisschen Romantiker geblieben, wer weiß. Am | |
meisten schätzt er jedenfalls das Brahmssche Schweigen. Jene Stücke, die in | |
Stille enden - wie dessen 3. Sinfonie, die Tate in der nächsten Saison in | |
Hamburg dirigieren wird. "Ich liebe Stücke, die im Nichts enden, die quasi | |
einfach verschwinden. Ein solches Ende ist für mich eine Allegorie auf den | |
Tod", sagt Tate. | |
Mit dem war er vor 18 Monaten sehr plötzlich konfrontiert; im letzten | |
Moment wurde er wiederbelebt. "Und als ich aus dem Koma aufwachte, merkte | |
ich, dass der Tod in diesem Fall - es gibt natürlich grausamere - viel | |
bequemer ist, als ich dachte. Denn ich hatte ja gar nichts davon bemerkt. | |
Ich war einfach weg. Das hat mich ein bisschen beruhigt." | |
Glücklich macht ihn der Gedanke, nicht mehr zu existieren, immer noch | |
nicht. Aber der Tod ist nicht mehr so schrecklich. Was danach kommt? "Ich | |
weiß nicht. Ich glaube nicht an Gott", sagt Tate. "Ich glaube, dass wir | |
schlicht verschwinden und uns irgendwann mit dem Nichts vereinen. Ich hätte | |
es sicher leichter, wenn ich Buddhist wäre. Aber das bin ich noch nicht", | |
sagt er, pragmatisch und immer mit ironischer Distanz zu sich selbst. | |
Gedanken, die schwer in Worte zu fassen sind, aber umso klarer in Klänge. | |
"Musik ist eine Sprache, die auch Metaphysisches übermitteln kann", sagt | |
Tate. "Und deshalb liebe ich diese Stille nach dem Wohlklang - und fast | |
noch mehr die folgende Pause vor dem Applaus. Das ist ein konzentrierter | |
Moment, den ich sehr beglückend finde." | |
Wobei auch der Applaus variieren kann. In Japan zum Beispiel, "da klatschen | |
die Leute so, wie das Stück war: leise, wenn es leise war, laut, wenn es | |
pompös war. Sie spüren - oft besser als wir Europäer - welche Nuance an | |
Applaus ein Stück erfordert." Aber nein, auf die Europäer schimpfen will er | |
nicht. Obwohl es schon manchmal stört, das Husten oder | |
Zwischen-den-Sätzen-Klatschen. Neulich ist das den Symphonikern passiert. | |
"Ich frage mich, ob wir etwas falsch gemacht haben. Ich hoffe nicht", | |
lächelt er. | |
Da ist sie wieder, die Bereitschaft zu Selbstzweifel und -korrektur, die | |
auch seine Proben prägt. Denn natürlich gebe er die "große Vision", die | |
Phrasierung eines Stücks vor, sagt Tate. Aber er respektiert auch die | |
Vorschläge der Musiker. "Wenn der erste Geiger sagt, hier muss ein | |
Aufstrich sein, akzeptiere ich das. Schließlich muss er die handwerkliche | |
Arbeit leisten." Und wenn er merkt, dass seine Ideen nicht praktikabel | |
sind, schließt er Kompromisse. "Es ist keine völlige Demokratie - das geht | |
auch gar nicht zwischen Dirigent und Orchester," sagt Tate. "Aber ich würde | |
sagen: Es ist eine Art Demokratie." | |
2 Jun 2009 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
Klassische Musik | |
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