# taz.de -- Debatte Iran und Saudi-Arabien: Ungleiche Rivalen | |
> Iran und Saudi-Arabien bestehen nicht nur aus zwei Regimen, sondern auch | |
> aus zwei Gesellschaften. Und die sind grundverschieden. | |
Bild: Die Iranerinnen sind heute im öffentlichen Leben so präsent, dass bei d… | |
Sind Iran und Saudi-Arabien eigentlich menschenleere Gebiete ohne Bürger, | |
ohne Gesellschaften? In diesen Tagen wird über beide Länder oft gesprochen, | |
als bestünden sie nur aus Regimen. Dieser eingeschränkte Blick zeichnet | |
dann zwei gleichermaßen unsympathische und von Religion besessene Systeme, | |
deren Rivalität schon deshalb kaum überrascht, weil hier eben zwei Ähnliche | |
miteinander ringen. | |
Und diese Ähnlichen, so folgt die Logik auf dem Fuße, nehmen das Einzige, | |
was sie wirklich trennt, eben essenziell wichtig: die Konfession – | |
Sunnitentum und Schia. | |
Wenn wir den Blick ein wenig weiten, entsteht ein anderes Bild. Dann sehen | |
wir zwei Gesellschaften, die sich in sehr unterschiedlichem Takt | |
modernisieren und in denen trotz verwandter sozialer oder wirtschaftlicher | |
Probleme das Wichtigste doch grundverschieden ist: Lebensgefühl, | |
Geschichtsbewusstsein, zivilgesellschaftliches Niveau. | |
Eben aus Saudi-Arabien zurückgekehrt, fällt mir auf, wie selten mir dort | |
etwas passiert, das in Iran so häufig ist: Junge Frauen, neugierig und | |
weltoffen, sprechen eine Ausländerin an, mit Fragen nach dem Woher und | |
Wohin, mit Lust auf Austausch. Gleichaltrige Saudis scheinen reservierter, | |
selbstbezogener, vielleicht unsicherer. | |
Dabei dominiert in beiden Ländern heute eine gebildete junge Generation; | |
allen Stereotypen zum Trotz machen in Iran wie in Saudi-Arabien mehr Frauen | |
als Männer einen Universitätsabschluss. Ähnlich ist auch eine hohe | |
Scheidungsrate, die auf die Risse im Gefüge familienzentrierter Kulturen | |
verweist; mehr Scheidungen werden dabei von Frauen beantragt. | |
## Die Frauen | |
Deren Lage ist in beiden Ländern ein Indikator des Wandels – allerdings mit | |
einem gefühlten halben Jahrhundert Abstand. In Saudi-Arabien gilt ein | |
bizarres Vormundschaftsrecht, es macht Frauen lebenslang zum Mündel. | |
Dagegen regt sich Widerstand, jedoch bisher nur von einer kleinen | |
Minderheit. In Iran hat hingegen die Masse der Frauen durch Bildungshunger | |
und Berufstätigkeit die Alltagskultur rasant verändert. | |
Die Iranerinnen sind heute im öffentlichen Leben so präsent, dass bei der | |
zurückliegenden Präsidentschaftswahl jeder Bewerber um ihre Stimmen warb. | |
Obwohl Iranerinnen über anhaltende Benachteiligung klagen, empfänden sie es | |
als Beleidigung, mit den saudischen Schwestern auf eine Stufe gestellt zu | |
werden. | |
Gewisse Freiheiten sind in beiden Systemen käuflich. Reiche haben Bars und | |
Swimmingpools, ob im nördlichen Teheran oder hinter den Mauern saudischer | |
Villen. In beiden Ländern wurde die ominöse Religionspolizei in jüngster | |
Zeit zurückgepfiffen – vielleicht wird sie hier wie dort als obsolet | |
betrachtet angesichts der Umbrüche, die durch Wirtschaftskrisen und die | |
absehbare Endlichkeit des Öls erzwungen werden. | |
Doch bleibt in der saudischen Gesellschaft religiöser Extremismus viel | |
stärker beheimatet als in Iran. Auf einer Liste von Ländern, aus denen die | |
meisten Pro-IS-Tweets kommen, steht das Königreich ganz oben. Die völlige | |
Abwesenheit von Religionsfreiheit war jetzt im Ramadan besonders | |
augenfällig: Vor dem Fastengebot kuschen öffentlich auch Zigtausende | |
nichtmuslimische Arbeitsmigranten von den Philippinen oder aus Nepal. Keine | |
Kirche im Land zu dulden, keine Synagoge, wäre für Iraner dagegen | |
undenkbar. | |
## Das Internet | |
Junge Saudis sind netzaffin; die Iraner sind es bereits viel länger, sie | |
machten vor, wie man sich Kanäle zur Selbstverständigung schafft, jenseits | |
von Staatsmedien oder klerikaler Zensur. Aber das Netz spiegelt heute hier | |
wie dort auch den politischen und religiösen Kampf um Köpfe und Herzen, es | |
ist längst nicht mehr alleinige Domäne von Freigeistern oder Dissidenten, | |
sondern ebenso eine Bühne von Konservativen und Hardlinern. | |
Die saudischen Aktivistinnen gegen das Fahrverbot haben eine virtuelle | |
Anhängerschaft, doch sie kann sich nicht mit dem Millionenpublikum einer | |
erzkonservativen Predigerin messen. Auch die männlichen Twitterstars der | |
Saudis sind meist Religiöse. | |
Was beide Gesellschaften indes am deutlichsten trennt, nenne ich ihr „In | |
der Zeit sein“: Iraner beziehen ihren Nationalstolz vor allem aus der | |
vorislamischen Epoche, aus einer Jahrtausende langen Kulturtradition. Die | |
Saudis betrachten hingegen die Zeit, bevor der Prophet Mohammed ihre | |
sandige Bühne betrat, als dunkle, vorzivilisatorische Ära. Vielleicht | |
können sie deshalb den iranischen Stolz auf das einstige Persische Reich | |
nur als Ausdruck heutigen Teheraner Hegemonialstrebens interpretieren. | |
Als der Staat Saudi-Arabien 1932 auf dem jetzigen Territorium gegründet | |
wurde (nach zwei kleineren Vorläufern), hatten die Iraner bereits eine | |
konstitutionelle Revolution auf die Beine gestellt, ein Parlament | |
etabliert, eine Verfassung debattiert, Gewerkschaften gegründet. | |
## Bürgerrechtliches Ringen | |
Nach Zentralarabien kam die Modernisierung verspätet mit den | |
US-amerikanischen Ölfirmen, und sie beschränkte sich aufs | |
Technisch-Materielle. Die Iraner blieben hingegen das ganze 20. Jahrhundert | |
über in Unabhängigkeitskämpfe verstrickt. 1953 verstaatlichten sie ihr Öl, | |
als Strafe folgte ein von USA und Briten inszenierter Putsch. Die | |
Revolution von 1979 war Teil einer langen Kette immer neuer Anläufe, die | |
bis in unsere Tage reicht. Dieser lange Atem bürgerrechtlichen und | |
intellektuellen Ringens ist der saudischen Gesellschaft fremd, mit Ausnahme | |
Einzelner. | |
Irans Versuch, nach 1979 einen revolutionären Islam zu exportieren, auch in | |
die sunnitische Welt, scheiterte. Anders die Saudis: Sie betrieben im | |
selben Zeitraum erfolgreich die reaktionäre Mission, trugen ihren | |
Wahhabismus bis in die hinteren Winkel Westafrikas und Indonesiens. | |
Irans Revolutionsführer Ali Chamenei nannte Saudi-Arabien kürzlich eine | |
„rückwärtsgewandte Stammesgesellschaft“, während in Iran gerade 40 | |
Millionen Menschen zur Wahl gegangen seien. Viele Iraner, auch wenn sie dem | |
Regime nicht nahestehen, dürften sich in dieser Beurteilung wiederfinden. | |
Wie Donald Trump sie schmäht und die Saudis preist, empfinden sie als große | |
Kränkung. | |
19 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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