# taz.de -- Knutschen in Charlottenburg: Schmatz, Schmatz | |
> Das Bröhan-Museum hat eine Ausstellung mit dem Titel „Kuss“ | |
> zusammengestellt. Sie zeigt, dass es kaum eine Geste gibt, die mit mehr | |
> Bedeutungen aufgeladen wurde. | |
Bild: Im Birkenwald: „An Epoch of Clemency“ aus dem Jahr 2005 der Künstler… | |
Die Fotografie zeigt zwei sich küssende russische Polizisten in einem Wald | |
voller Birken, jenem Baum, der als nationales Symbol Russlands gilt – es | |
wurde inspiriert von den „Küssenden Polizisten“ des britischen | |
Streetart-Künstlers Banksy. | |
Eigentlich harmlos, möchte man meinen, aber als die Künstlergruppe Blue | |
Noses 2005 ihr Werk in einer russischen Galerie in Paris zeigen wollte, | |
schritt der russische Kultusminister Alexander Sokolow ein. Er nannte das | |
Bild namens „An Epoch of Clemency“ eine „Schande für Russland“ und ver… | |
dessen Ausfuhr nach Frankreich. | |
Dass der Kuss nicht nur eine der schönsten kulturellen Gepflogenheiten ist, | |
über die wir verfügen, sondern dass er in den letzten 130 Jahren eine | |
vieldeutige Angelegenheit war und mit den verschiedensten Bedeutungen | |
aufgeladen wurde, dass er auch ein Politikum sein kann – dies zeigt die | |
gattungs- und genreübergreifende, nach Themenblöcken sortierte Ausstellung | |
„Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan“ im Bröhan-Musem, die am heutigen Abend | |
eröffnet wird. | |
Sie befasst sich mit der Rolle des Kusses im Film, in der Kunst um 1900, in | |
der feministischen Kunst. Und einer der interessantesten Themenräume ist | |
wie gesagt der namens „Kuss und Politik“, in dem die beschriebenen | |
russischen Polizisten zu sehen sind, aber auch das umstrittene Kussvideo in | |
der Betonstele am Rande des Tiergartens vom Künstlerduo Elmgreen & Dragset | |
zur Erinnerung an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. | |
## Der Kuss der Künstlerin | |
Eines der tollsten ist aber vielleicht ein Foto der Performance „Le baiser | |
de l’artiste“ (Der Kuss der Künstlerin) von der französischen | |
Aktionskünstlerin Orlan aus dem Jahr 1977. Bei dieser verkaufte Orlan für 5 | |
Francs ihren Kuss – und man kann sich nicht sicher sein: Stellt sie sich | |
als Opfer dar? | |
Geht es ihr um den Wert der Kunst von Frauen, die auf dem Kunstmarkt | |
schlechter bezahlt ist als die von Männern? | |
Stellt sich Orlan als emanzipiert dar – oder geht es in ihrer Performance | |
darum, sich zwischen all diese Stühle zu setzen? | |
Zwei der schönsten und prominentesten Kunstwerke der Ausstellung im | |
Bröhan-Museum ist die berühmte „Kuss“-Bronze von Auguste Rodin und Peter | |
Behrens’ Farbholzschnitt „Der Kuss“, der 1898 in der Jugendstil-Zeitschri… | |
Pan erschien. Zwei der abstoßendsten sind eine Videoarbeit von Florian | |
Meisenberg, die Küsse zwischen Hunden und Menschen zeigt – und eine Arbeit | |
von Jürgen Teller namens „Anne & Elisa No.1“. | |
## Viele Kulturen kennen kein Küssen | |
Teller scheint sich am Kuss vor allem für das picklige Fleisch zu | |
interessieren, dessen Zusammenprall nicht unbedingt sehenswert ist. Küsse | |
können auch eklig sein – und über diese Binsenwahrheit gelangt man auch zu | |
einem Thema, das in der ansonsten sehr schönen Ausstellung leider | |
unberücksichtigt bleibt. | |
Bis vor Kurzem galt noch als ausgemacht, der Kuss sei ein globales Phänomen | |
und leite sich daher ab, dass Mütter vor der Erfindung des Pürierstabs | |
ihren Kindern Nahrung vorgekaut haben. Doch 2015 erschien eine Studie von | |
Forschern am Kinsey-Institut, die bewies, dass der romantisch-sexuelle Kuss | |
nicht mal annähernd universell verbreitet ist. | |
Sie fanden 168 Kulturen, in denen Wissenschaftler Kussverhalten beobachtet | |
hatten. In 77 der Kulturen küssen sich die Menschen, in 91 küssen sie sich | |
nicht. Am liebsten küsst man sich im Nahen Osten. Unterhalb der Sahara wird | |
es weniger. Und in Mittelamerika küssen sich die Menschen, die in | |
traditionellen Kulturen leben, gar nicht. Jedenfalls fanden die Forscher | |
kein Volk, in dem man sich gern küsst. | |
Wie aber hätte eine Ausstellung wie die im Bröhan-Museum abbilden können, | |
dass der Kuss, der zu Liebe und Sex gehört, ein westlich geprägtes Bild | |
ist? Gibt es das überhaupt: eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem | |
Nasenkuss beispielsweise, wie er fälschlicherweise den Inuit zugeschrieben | |
wird? | |
Trotzdem ist die „Kuss“-Ausstellung eine sehr sehenswerte, eine anregende | |
Ausstellung. Und sei es auch nur wegen der „Postfaktischen | |
Knutschperformance“ des Künstlerduos Römer + Römer, bei der es um | |
knutschende Berliner geht. | |
14 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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