# taz.de -- Die Zukunft des Fahrrads: Macht Platz für das Auto von morgen! | |
> Ökologisch, sozial, individuell – das Fahrrad ist dem Auto in vielen | |
> Punkten überlegen. Aber manche Probleme hat es auch mit ihm gemein. | |
Bild: Fahrradfahren macht Spaß – auch (oder erst recht?) nackt | |
Die Idee war so genial wie die Erfindung von Rad und Hebel: das Laufrad. | |
Denn der Gedanke, dass ein Mensch auf zwei Rädern, die hintereinander mit | |
einem Rahmen verbunden sind, rollen und lenken kann, ohne umzukippen, ist | |
alles andere als trivial. Jahrhundertelang kannte die Menschheit Fahrzeuge | |
mit Achsen: Pferdefuhrwerke, Kutschen, Streitwagen. Aber ein Zweirad, quasi | |
als Grundtyp des Fahrrades, des Motorrades und des Kinderlaufrades – das | |
hatte es bis zur Erfindung des Karl Drais nicht gegeben. | |
Am 12. Juni 1817, also genau vor 200 Jahren, machte sich Drais mit seiner | |
hölzernen Laufmaschine zum ersten Mal auf den Weg: von Mannheim nach | |
Schwetzingen. Obwohl die Wege holprig und die Speichenräder nicht gefedert | |
waren, bewältigte Drais die Strecke schneller als ein Wanderer. Damit war | |
ein flotter Ersatz für Pferd und Kutsche geboren. | |
Die These, dass die Missernten im Vorjahr – dem Jahr ohne Sommer, | |
hervorgerufen durch einen Vulkanausbruch in Indonesien – maßgeblich für die | |
Erfindung waren, weil viele Pferde mangels Futter geschlachtet werden | |
mussten, ist zwar umstritten. Aber Drais’ Erfindung, entstanden nach einem | |
Klimachaos, ist nicht mehr wegzudenken bei der Lösung des aktuellen | |
Klimaproblems. | |
Denn das Fahrrad ermöglicht, nach Jahrzehnten des in Deutschland | |
dominierenden Autoverkehrs, klimafreundliche Mobilität für jeden, sei es im | |
urbanen Bereich oder im ländlichen Nahraum. Dank technischer | |
Weiterentwicklungen (Elektrorad) und besserer Wege kommt man mit dem Rad | |
immer schneller voran – vor allem, wenn es mit umweltfreundlichen | |
Fernverkehrsmitteln wie Bus und Bahn ergänzt wird. Gleichzeitig ruft die | |
rasante Zunahme des Radverkehrs in vielen Städten Probleme hervor, die vom | |
Auto hinlänglich bekannt sind: Stau, Parkplatznot, mehr Unfälle, mehr | |
Schrott. Überspitzt gesagt: Das Fahrrad ist das Auto von morgen. | |
## Probleme müssen mitbedacht und gelöst werden | |
Wer in Fahrradstädten, wie Berlin oder Münster, an eine rote Ampel | |
heranrollt, an der schon Dutzende Radler und Radlerinnen stehen, muss sich | |
hinten anstellen: Vorbeidrängeln wäre so asozial wie das Überholen auf der | |
Standspur bei einem Autobahnstau. Und weil es so viele gibt, die vor einem | |
stehen, erleben Radler, was sie bislang nur vom Autofahren kennen: Es kann | |
sein, dass eine Grünphase nicht reicht, um über die Kreuzung zu kommen. | |
Fast noch gravierender als der Fahrradstau im Berufsverkehr ist die | |
Stellplatznot, insbesondere an Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen. Diese Stau- | |
und Parkplatzprobleme in Deutschland ließen sich in den allermeisten Fällen | |
lösen, wenn der vorhandene Verkehrsraum zu Lasten des Autoverkehrs neu | |
verteilt würde: breitere Radspuren, mehr Stellplätze. Radstädte wie | |
Münster, Amsterdam oder Kopenhagen machen das vor. | |
Aber der Straßen- und Stadtraum ist nicht unendlich, und bei immer weiter | |
verdichteten Städten, die auch ein Mindestmaß an Platz für Liefer-, Taxi-, | |
Polizei- und Rettungsdiensteverkehr benötigen, könnte es selbst für die | |
schmalen Räder irgendwann zu eng werden. Eine Vorahnung darauf gibt das | |
Bild chinesischer Städte, in denen riesige Haufen von hingeworfenen | |
Leihfahrrädern wertvollen Stadtraum blockieren. | |
Dieser Befund spricht – ebenso wenig wie die Schwierigkeiten bei der | |
Entsorgung der E-Rad-Batterien – selbstverständlich nicht gegen eine | |
weitere Förderung des Radverkehrs. Aber die damit verbunden Probleme müssen | |
mitbedacht und gelöst werden. | |
## Auf guten Wegen macht Radfahren bei gutem Wetter Spaß | |
Das trifft auch auf die mitunter schwierige Verzahnung von öffentlichem und | |
Radverkehr zu, die bislang kaum Beachtung findet, etwa den Umstand, dass | |
Radler Busse auf Busspuren behindern oder Fahrräder U- und S-Bahnen | |
verstopfen. Wichtiger noch ist: Je mehr Radler auf bestimmten Strecken | |
unterwegs sind, umso größer sind Schwankungen bei der Nachfrage nach dem | |
öffentlichen Personennahverkehr, und umso schwieriger ist die Organisation | |
des ÖPNV. | |
Ein Beispiel: An einem Regentag drängen sich in der Berliner Innenstadt | |
viel mehr Passagiere in Bussen und Bahnen als bei schönem Wetter, weil | |
viele Radler plötzlich auf den ÖPNV umsteigen. Im Berufsverkehr kann das | |
auf manchen Linien zur Folge haben, dass der Fahrplan nicht eingehalten | |
werden kann. Zudem haben schwächere Verkehrsteilnehmer – etwa | |
Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen, Senioren oder Kindergruppen – | |
schlechte Chancen mitzukommen, wenn Busse und Waggons überfüllt sind. | |
Die einfache Lösung, einfach einen engeren Takt zu fahren und mehr Busse | |
einzusetzen, hat natürlich ihre Haken. Erstens müssen Fahrzeuge und Fahrer | |
zur Verfügung stehen, zweitens kosten sie Geld, und drittens lohnt sich ein | |
Luxustakt nicht, wenn die Sonne scheint. Einen Sonnenschein- oder | |
Regenfahrplan aufzustellen – das aber ist ein Ding der Unmöglichkeit; so | |
flexibel kann kein Verkehrsunternehmen sein. | |
Dennoch: Fahrradfahren macht Spaß, zumindest auf guten Wegen und bei gutem | |
Wetter. Denn die Bewegung an frischer Luft sorgt für körperliches und | |
geistiges Wohlbefinden. Dass die Elektroräder diesen Genuss auch Senioren | |
oder Bewohnern bergiger Gegenden ermöglichen, kann gar nicht hoch genug | |
gewürdigt werden. | |
## Auch Arme können so mobil sein wie Durchschnittsbürger | |
Der Nutzung von Rädern sind dabei keine natürlichen Grenzen gesetzt – wenn | |
sich die Menschen an verschiedene Wetterbedingungen (außer Glatteis | |
vielleicht) anpassen und sich daran gewöhnen, mit dem Nasswerden bei Regen | |
(Wechselsachen) und dem Verschwitztsein bei Hitze (Duschen am | |
Arbeitsplatz) umzugehen. | |
Eines aber behindert den Radverkehr: Kriminalität. Wem häufig das Rad | |
gestohlen wird, der hat zwei Möglichkeiten: Entweder er rüstet auf mit | |
immer besseren Schlössern und teureren Versicherungen. Oder er legt sich | |
eine alte Gurke zu, die sich für Diebe nicht mehr lohnt. Solche Räder sind | |
aber oft nicht besonders schnell und komfortabel, entsprechend verringert | |
sich der Radius dieser Nutzer. Wer den Radverkehr fördern will, sollte also | |
auch den zunehmenden Fahrraddiebstahl konsequent bekämpfen und den Schutz | |
der Bevölkerung vor Kriminalität nicht als „rechtes Thema“ abtun. | |
Das wäre im Übrigen auch sozialpolitisch geboten. Denn Städte mit einem | |
hohen Radverkehrsanteil können sich zugutehalten, relativ sozial zu sein. | |
Auch Arme können es sich dort leisten, so mobil wie der Durchschnittsbürger | |
zu sein, weil ein Fahrrad nicht viel kosten muss. Ganz anders sieht es in | |
Autostädten aus, etwa in Los Angeles, wo Menschen ohne Auto und das nötige | |
Kleingeld für teure Parkgebühren gesellschaftlich ausgegrenzt werden. | |
## Design, Ausstattung, Prestige schrecken die Kunden ab | |
Dieser Effekt wird jedoch dadurch eingeschränkt, dass das Rad, wie das | |
Auto, längst zu einem Mittel sozialer Distinktion geworden ist. Wer ein | |
besonders schickes Modell namhafter Marken besitzt, darf sich in bestimmten | |
Milieus besser fühlen als der Nutzer eines günstigen 08/15-Rades. So wie | |
sich der Besitzer eines Porsches dem eines Škodas überlegen fühlt, obwohl | |
Fahrzeuge beider Marken völlig ausreichend sind, ihre Nutzer sicher von A | |
nach B zu bringen. | |
Die zunehmende Differenzierung von Rädern in puncto Design, Ausstattung, | |
Prestige und Einsatzzweck nutzt einerseits dem Radverkehr, weil sie den | |
Herstellern höhere Gewinne beschert, die wiederum in die technische | |
Weiterentwicklung und Erschließung neuer Zielgruppen investiert werden | |
können. | |
Andererseits schadet sie, weil sie die genial einfache Erfindung des Karl | |
Drais unnötig verkompliziert – und so Kunden abschreckt und Ressourcen | |
verschwendet. Ein Beispiel dafür ist die Farbgebung von Kinderrädern: rosa | |
für Mädchen, silber oder dunkel für Jungs – damit Bruder und Schwester die | |
Räder ja nicht voneinander übernehmen können. Dem Fahrrad gehört | |
zweifelsohne die Zukunft – aber nicht so! | |
11 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Richard Rother | |
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