# taz.de -- US-Pastorin zum Kirchentag: „Wann habt ihr eigentlich Spaß?“ | |
> Sie hat Tattoos und setzt sich für Außenseiter ein. Die amerikanische | |
> Pfarrerin Nadia Bolz-Weber über Luther, den Kirchentag und Donald Trump. | |
Bild: Nimmt das alles nicht so ernst: US-Pastorin Nadia Bolz-Weber | |
kirchentaz: Frau Bolz-Weber, glauben Sie, Sie wären so prominent, wenn Sie | |
nicht so viel Tattoos hätten? | |
Nadia Bolz-Weber: Wahrscheinlich wäre die Medienaufmerksamkeit nicht so | |
groß. Aber meine Tattoos verändern nicht, wie die Leute auf das reagieren, | |
was ich predige oder schreibe. Wenn es in meiner Arbeit nicht Inhalte gäbe, | |
mit denen die Leute etwas anfangen könnten, käme ich mit den Tattoos nur | |
einen Zentimeter weiter. Ich betone das immer: Ich bin nicht die | |
Geschichte. Die Geschichte ist vielmehr: Was hat sich kulturell und | |
gesellschaftlich geändert, dass eine Situation entstanden ist, in der Leute | |
bereit sind, mir zuzuhören. | |
Ist die lutherische Durchschnittsgemeinde zu bürgerlich für Leute am Rande | |
der Gesellschaft? | |
Ja. Aber bedeutet das, dass solche Gemeinden etwas falsch machen? Nein. | |
Aber sie sind eben begrenzt in ihrer Ansprache. Wir sollten eine | |
Pastorenschaft haben, die wie alle möglichen Arten von Menschen aussieht | |
und sie auch repräsentieren kann. Stattdessen haben wir nur eine Art von | |
Kultur und Ausdruck eingehegt, von dem wir glauben, dieser sei es wert, | |
christlich genannt zu werden. Dabei gibt es doch so viele andere Arten von | |
Leuten! | |
Was können die Durchschnittschristen von den Außenseitern der Gesellschaft | |
lernen? | |
Damit fängt doch das Evangelium an. Jesus hing nicht vor allem mit | |
respektierten Menschen zusammen. Er wusste, dass seine Botschaft verstanden | |
und euphorisch akzeptiert werden würde von den Menschen am Rande der | |
Gesellschaft. Wenn man eine Gruppe repräsentiert, die Macht und Respekt | |
genießt, kann es schwieriger sein, dem Evangelium zu folgen. | |
Ist die lutherische Kirche zu fett, zu reich geworden? | |
Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus seine Kirche danach | |
beurteilt hätte, wie viele Grundstücke sie besitzt, wie viele Mitglieder | |
sie hat und wie ihr Budget aussieht. Das sind fast Kategorien des | |
Spätkapitalismus. Wenn wir befürchten, dass uns diese Dinge aus der Hand | |
gleiten, dann ist das in Ordnung, denn wir hätten nie nach ihnen greifen | |
sollen. | |
Sie haben eine gewisse Berühmtheit erlangt. Ist das eine Versuchung für | |
Sie? | |
Ja, sicher, einer der verwirrenden Aspekte meines Lebens in den vergangenen | |
drei, vier Jahren ist die wachsende Erwartungshaltung mir gegenüber. Wenn | |
man besonders behandelt wird – und plötzlich darüber nachdenkt, ob man | |
nicht auch besonders ist. Das ist wie Gift, nicht gesund. Manche Leute | |
sagen außergewöhnliche Dinge zu mir: Wie ich ihr Leben verändert habe und | |
dass sie wieder an Gott glauben – all diese großen Sachen. Dafür fühle ich | |
mich nicht verantwortlich. Aber wenn die Dinge, die ich tue, einen guten | |
Effekt auf Menschen haben, dann sollte ich das weiter machen. | |
Sie kommen zum Reformationsjubiläum nach Deutschland: 500 Jahre nach dem | |
sogenannten Thesenanschlag Martin Luthers. Bewundern Sie ihn? | |
Er hat viel richtig und viel falsch gemacht – wie wir alle. | |
Wie gehen Sie mit seinen schwarzen Seiten um, etwa seiner Judenfeindschaft? | |
Das ist doch die Ironie: Wenn man wirklich Martin Luthers Lehre folgt, ist | |
es kein Problem zu sagen, dass er teilweise total falsch lag, etwa bei dem | |
Unsinn mit dem Antisemitismus. Denn er hat ja betont, dass wir sowohl | |
Gerechte wie Sünder sind: „simul justus et peccator.“ Das habe ich auf ein | |
Handgelenk tätowieren lassen. Wenn wir zugleich Gerechte und Sünder sind, | |
dann hat alles, wofür wir brennen, diesen ambivalenten Charakter. Deshalb | |
haben wir als Lutheraner nicht die allerhöchste Meinung von Menschen. Und | |
wir sind nie wirklich geschockt, wenn schlimme Dinge passieren. Bei jedem | |
Skandal kannst du als solide Lutheranerin sagen: Das ist unvermeidbar. Wir | |
Menschen haben die Fähigkeit zur Zerstörung – aber auch zur Gnade und | |
Liebe. | |
Die Wirkung des Antisemitismus von Martin Luther war verheerend in der | |
europäischen und vor allem der deutschen Geschichte. | |
Das passiert, wenn man eine Person zu jemandem macht, an dem nicht | |
gezweifelt werden darf. Weil jeder diese ambivalente Natur hat. Deshalb | |
müssen unsere Führer in Frage gestellt werden. Und deshalb glaube ich nicht | |
an Helden. | |
Sie kommen, nach Stuttgart vor zwei Jahren, zum zweiten Mal zum Kirchentag. | |
Ist diese Veranstaltung nicht seltsam für Sie? | |
Ein Kirchentag ist total seltsam! Die ganze Zeit habe ich mich in Stuttgart | |
gefragt: Was passiert hier eigentlich? Ich verstehe gar nicht, was das hier | |
ist. Außerdem fühlt sich das so wahnsinnig ernst an. Oh, mein Gott, man | |
kann nicht so ernst sein und das immer noch ein Fest nennen. Außerdem sind | |
die Deutschen so akademisch. Ich habe in Stuttgart gefragt: Wann habt ihr | |
hier eigentlich Spaß? Da kam die Antwort: Oh, nein, das ist Spaß! Wow, das | |
ist offenbar deutscher Spaß. | |
Befürchten Sie einen Rückschlag bei der Toleranz gegenüber Minderheiten | |
wegen der neuen US-Regierung? | |
Oh, mein Gott! Ich bin eine Gemeindepastorin. Ich versuche, mich nicht | |
einwickeln zu lassen durch Angst und Furcht vor Dingen, die vielleicht | |
passieren könnten. Ich möchte mir Angst und Furcht reservieren für die | |
Dinge, die tatsächlich geschehen. Aber was ich Ihnen mit größter Sicherheit | |
sagen kann: Die geistige Gesundheit der Leute in meiner Gemeinschaft ist | |
drastisch erodiert seit der Wahl Trumps. | |
Wirklich! | |
Bei Leuten, die transgender sind oder homosexuell oder eingewandert sind. | |
Da gibt es jetzt mehr Angst? | |
Ja, Depressionen und Ängste. Es gibt Leute, die wieder Drogen nehmen, | |
obwohl sie für eine Weile clean waren. Es gab einige Suizidversuche. Die | |
mentale Gesundheit von Leuten in meiner Gemeinschaft, die bereits | |
marginalisiert sind, ist noch schlechter geworden. Was am Ende passieren | |
wird, weiß ich nicht, aber ich kann Ihnen sagen, was jetzt schon passiert | |
ist. Das macht mich wütend. Trump hat die schlimmsten Instinkte unseres | |
Menschseins hervorgelockt. | |
25 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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