# taz.de -- Tod des Studenten Benno Ohnesorg: Wendepunkt 2. Juni | |
> Die Außerparlamentarische Opposition begann nicht 1968. Ihr Auftakt war | |
> die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg im Jahr zuvor. | |
Bild: Pressevertreter fotografieren die Proteste vor dem Schöneberger Rathaus … | |
Was machte den 2. Juni 1967 zum Wendepunkt? In jener Nacht des | |
Polizeiangriffs auf die protestierenden Studenten vor der Deutschen Oper, | |
wo der Schah von Persien die „Zauberflöte“ erlebte, kulminierte in | |
radikaler Verkürzung, was die antiautoritäre Bewegung bedrohte. | |
Der Polizeimord, Ohnesorg, der Student, der nur protestiert, das Opfer | |
schlechthin; die Befehlsketten von Altnazis in der Polizei, die den Mörder | |
in Sicherheit bringen, der Operateur im Krankenhaus Moabit, der die | |
Einschussränder wegbrechen und verschwinden lässt, um dann stumpfe Gewalt | |
zu diagnostizieren – der Staatsapparat selbst riss den Schleier der | |
Demokratie weg. Seit der Großen Koalition beschwor die „radikale | |
Minderheit“, die Protestbewegung, dass das „System“ jede fundamentale | |
Opposition vernichten will. Nun war es wahr. | |
Aber der Wendepunkt begann eigentlich mit dem Morgen des 3. Juni: die | |
Nachricht vom Mord, das totale Demonstrationsverbot. Wir waren eingekreist, | |
standen mit dem Rücken zur Wand. Unsere kurze Geschichte des Protestes war | |
zu Ende. Das Uhrwerk der Geschichte rastete ein. Untergehen oder | |
weitergehen? Und dann, vor Augen die leere Zukunft, bewegten wir uns, mit | |
wachsender Beschleunigung. Ohne Planung begann eine fieberhafte Aktivität. | |
Der „Untersuchungsausschuss“ etablierte sich und machte die erste | |
Bilddokumentation; Flugblätter wurden geschrieben; Protestdemonstrationen | |
bildeten sich, wurden aufgelöst, fanden sich wieder zusammen. Es begann | |
eine Woche massenhafter Aktivität. Solidaritätsdemonstrationen in | |
Westdeutschland, an den Universitäten, Trauerbekundungen, Proteste und | |
Resolutionen aller Institutionen von Kirche bis zu den Gewerkschaften. | |
Die Geschichte drehte sich wieder, aber nun auf einmal um uns. Die | |
Gesellschaft wollte Aufklärung und fragte, was wollen die Studenten. Sie | |
waren plötzlich nicht mehr Hassobjekt der Frontstadtpolitik und -presse, | |
nicht mehr Feinde der Demokratie, die man am besten „nach drüben“, in die | |
DDR jagt. | |
Der 2. Juni ist auch die Geschichte einer atemberaubenden Woche. Am Ende, | |
am 8. Juni fand die Trauerfeier im überfüllten Henry-Ford-Bau der FU statt. | |
15.000 Studenten, an der Spitze der Rektor und die Professorenschaft, | |
begleiteten den Trauerkondukt an die Zonengrenze. Die DDR erlaubte es, dass | |
der Trauerkonvoi, der den Sarg Ohnesorgs nach Hannover überführen sollte, | |
zusammen mit 200 Fahrzeugen ohne Kontrollen und Transitgebühren passieren | |
konnte. Tausende FDJ-Mitglieder standen mit gesenkten Fahnen und Plakaten: | |
„Wir verneigen uns vor dem Opfer des Neonazismus“. Am Tag danach konnte | |
noch einmal ein Zug von 586 Pkws und 4 Bussen mit Trauerfahnen zur | |
Beisetzung die DDR unkontrolliert passieren. Und am Abend begann der | |
Kongress „Hochschule und Demokratie“ in der Niedersachsenhalle in Hannover. | |
## Streit zwischen Dutschke und Habermas | |
Was es auch immer für die DDR bedeutete – paradoxerweise riss diese | |
einmalige Grenzöffnung das Ereignis des 2. Juni aus dem hasserfüllten | |
Frontstadtmilieu heraus und verlieh ihm nationale Bedeutung. Aber mehr noch | |
war dieser Kongress prägendes Element der Wendesituation 2. Juni. Er | |
gehörte unbedingt zur Vorstellung der Praxis der neuen radikalen Bewegung, | |
zur Einheit von Aktion und Lernprozess, zur Einheit von Theorie und | |
Praxis. | |
Auf dem Kongress kam es zum leidenschaftlichen Streit bei dem Thema Gewalt: | |
zu der Konfrontation von Jürgen Habermas und Rudi Dutschke. Habermas hatte | |
vor der unerträglichen Spannung zwischen revolutionärer Theorie und den | |
praktischen Möglichkeiten gewarnt und legte eine Kasuistik des Scheiterns | |
vor, die den Studenten drohe. Dutschke beschwor den Reichtum des | |
Spätkapitalismus, in dem die Abschaffung von Hunger und Krieg möglich sei. | |
„Alles hängt vom bewussten Willen der Menschen ab, ihre […] Geschichte | |
endlich bewusst zu machen“. Und mit ungeheurer rhetorischer Wucht setzte er | |
fort: „Professor Habermas, Ihr begriffloser Objektivismus erschlägt das zu | |
emanzipierende Subjekt.“ | |
Da war sie: die Taufe der Bewegung als historisches Subjekt. „Bewusst | |
Gechichte machen“, das hieß Aufklärung und Aktion, Protest und Provokation | |
der manifesten Gewalt. Was Dutschke suggerierte, war die Idee der | |
Emanzipation, die es immer wieder mit der Gewalt des Systems zu tun hat, | |
die Idee der emanzipierenden Gewalt. Habermas, alarmiert von der diffusen | |
Verlockung des Begriffs, unterbrach seine Abreise, um vor der | |
„voluntaristischen Ideologie“ zu warnen, die auf einen „linken Faschismus… | |
hinauslaufe. | |
## Die Demokratie demokratisierte sich | |
Das böse Wort vom linken Faschismus führte zu heftigem Streit innerhalb der | |
Linken. Habermas revidierte später den Begriff. Aber die Idee der | |
emanzipierenden Gewalt in ihrer diffusen Virulenz geisterte fortan durch | |
die antiautoritäre Bewegung. Revolution durch die Revolutionierung der | |
Revolutionäre, also durch gewaltsamen Ausbruch aus der bürgerlichen | |
Herkunft – das war die Suggestion des entfesselten Selbst. | |
Ende 1969 zerriss dieses Phantom die Bewegung. Die einen versuchten, der | |
Revolution habhaft zu werden, indem sie radikal ihre bürgerliche Herkunft | |
vernichteten und in den illegalen Kampf der RAF eintraten. Die anderen | |
flüchteten vor dem Sog der selbstzerstörerischen Emanzipation und | |
unterwarfen sich den dogmatischen Kaderparteien der Marxisten-Leninisten. | |
Aber all diese Entwicklungen wären nicht denkbar gewesen ohne die | |
suggestive selbstbezogene Urerfahrung des 2. Juni. Das Umschlagen von | |
Ohnmacht in Allmacht. Das war die genetische Prägung, die sich durch alle | |
späteren Generationen der Linken fortsetzte. So existenziell, wie die | |
Erfahrung war, so blind machte sie für das, was sich durch den 2. Juni noch | |
veränderte: Es wurde nicht wahrgenommen, dass die entlarvte Demokratie sich | |
auch demokratisierte; der entlarvte „faschistoide“ Obrigkeitsstaat | |
triumphierte nicht, sondern begann dem Rechtsstaat zu weichen. | |
Das berechtigt, den 2. Juni auch als Wendemarke für die ganze Geschichte | |
der Bundesrepublik festzuhalten. Was bleibt, ist die bittere Tatsache, dass | |
der Mord weder gesühnt wurde noch die Familie Ohnesorg jemals ein Zeichen | |
der Wiedergutmachung bekam. | |
2 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hartung | |
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