# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Keiner lebt gern hinter Zäunen | |
> Die Begegnungsstätte Givat Haviva will Araber und Israelis | |
> zusammenbringen. Für die einen schafft sie eine Infrastruktur, für die | |
> anderen Sicherheit. | |
Bild: Auch Bundespräsident Steinmeier stattet der Bildungsstätte einen Besuch… | |
Zwar sind die meisten Kibbuzim längst privatisiert – doch wenn Yaniv Sagee | |
vom Ideal der Brüderlichkeit spricht, springt immer noch ein Funke über. | |
Damit meint der 53-Jährige nämlich nicht nur seine jüdischen Landsleute. Er | |
selbst ist im Kibbuz Ein Ha Shofet im Wadi Ara aufgewachsen, im Norden | |
Israels. | |
Das Wadi Ara liegt direkt an der Grünen Linie, der offiziellen Grenze zum | |
Westjordanland. Im Krieg von 1948/49 wurde es zwar von irakischen | |
Streitkräften erobert, doch nach dem Krieg tauschte man es gegen ein Gebiet | |
im Osten ein. Damit fanden sich 15 arabische Dörfer im jungen Staat Israel | |
wieder. | |
Heute wohnen hier und im nahe gelegenen „Arabischen Dreieck“ die Mehrzahl | |
der arabischen Israelis in Dörfern, die aus allen Nähten platzen. Seit ein | |
paar Jahren fechten israelische Hardliner wie Verteidigungsminister Avigdor | |
Lieberman dafür, die Region gegen Siedlergebiet im Westjordanland zu | |
tauschen. | |
Dabei entstand mitten im Wadi Ara Israels erste NGO und Begegnungsstätte: | |
und das nur ein Jahr, nachdem die Israelis sich ihre Unabhängigkeit | |
erkämpft hatten – und die Palästinenser ihre Nakba beklagten, die große | |
Katastrophe. | |
## Denkfabrik der Kibbuzbewegung | |
Der Campus von „Givat Haviva“ wurde 1949 als Denkfabrik der Kibbuzbewegung | |
gegründet. Ihre Anhänger wollten die Regierung beeinflussen, den jungen | |
Staat nach ihren Vorstellungen aufzubauen. Eine Heimat für die Juden: | |
Sozialistisch. Brüderlich. „In logischer Konsequenz dieser Ideale strebten | |
die Kibbuzniks aber auch ein gutes Verhältnis mit den arabischen Nachbarn | |
an“, sagt Sagee. | |
Noch in den Fünfzigern seien sie durch die Dörfer gezogen, brachten sich | |
das Alltagsarabisch bei, um es fortan auf dem Campus zu lehren. Im | |
segregierten Schulsystem lernen jüdische Kinder bis heute nur Hocharabisch. | |
Für den Militärdienst, nicht zur Verständigung. Gut 40 Jahre lang galt | |
Givat Haviva als Vorzeigemodell für Friedenserziehung und Koexistenz. | |
Dann erhoben sich die Palästinenser zur zweiten Intifada, und diesmal | |
solidarisierten sich die arabischen Israelis mit ihren Verwandten hinter | |
der Grünen Linie. | |
Geldgeber im Ausland, aber vor allem die arabischen Partner verloren das | |
Vertrauen in Givat Haviva. Das Modell erwies sich als wirklichkeitsfremd. | |
„Es reicht den Arabern nicht, nach einem netten Gespräch in ihre armen | |
Dörfer zurückzukehren, während weiterhin ausschließlich wir Juden die | |
Privilegien genießen“, sagt Yaniv Sagee. | |
Als Mitglied und langjähriger Direktor der Kibbuz-Jugendbewegung Hashomer | |
Hatzair hat Sagee die Entwicklung von Givat Haviva und die Stimmungswechsel | |
im Wadi Ara hautnah miterlebt. | |
Als er 2012 die Geschäftsführung übernahm, sah er nur einen Weg, das | |
Vertrauen wieder aufzubauen: „Die palästinensischen Israelis müssen als | |
ebenbürtige Bürger wahrgenommen werden.“ | |
## Sicherheit für Infrastruktur | |
Neben Bildungsprogrammen auf dem Campus soll dafür vor allem das Konzept | |
der „Shared Communities“ sorgen. Es basiert auf den Ideen von Sagees | |
arabischem Partner Riad Kabha, der sich bereits in den Achtzigern als | |
Bürgermeister mit Nachbargemeinden informell vernetzt hatte. Ihre | |
Strategie: das Wadi Ara mit einem engmaschigen sozialen und | |
wirtschaftlichen Netz aus jüdisch-arabischen Beziehungen überziehen. | |
„Hohe Ideale genügen nicht mehr“, sagt Sagee. „Beide Partner müssen ein… | |
Vorteil sehen.“ Für die jüdischen Gemeinden sei das vor allem: Sicherheit. | |
„Keiner lebt gern hinter Zäunen.“ Für den arabischen Partner ein | |
Einkaufszentrum, ein Fußballstadion, ein Freizeitpark. Oder die längst | |
fällige Zugangsstraße. Die Regierung investiert von sich aus wenig in die | |
arabischen Gemeinden. Für Kooperationen dagegen ist eher Geld da. | |
Bis jetzt gibt es vier jüdisch-arabische Gemeindepartnerschaften: Das sind | |
160.000 Leute, die sich über gemeinsame Projekte langsam annähern. Denn die | |
Wunden sitzen tief. In einer der teilnehmenden jüdischen Gemeinden, nur | |
zwei Kilometer vom Campus entfernt, sprengte 2002 ein palästinensischer | |
Attentäter einen Bus. 14 Tote, 50 Verletzte. | |
Sagee formt zwei Ringe mit Daumen und Zeigefingern: „Koexistenz“. Dann | |
verschränkt er die Ringe zu seiner Vision einer gemeinsamen Gesellschaft. | |
Funktioniere das Modell im Wadi Ara, gäbe es keine Entschuldigung mehr für | |
den Rest von Israel. Er hofft, dass die israelische Regierung das Modell | |
von Givat Haviva irgendwann einmal für den ganzen Staat übernimmt. | |
10 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Agnes Fazekas | |
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