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# taz.de -- Paris nach der Wahlnacht: Ein mehrfach gespaltenes Land
> Am Tag nach der Wahl gehen tausende Linke gegen Macron auf die Straße.
> Andere geben dem Neuen eine Chance. Ein Stimmungsbild aus Paris.
Bild: Steht das Volk zu ihm? Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron
Paris taz | Während sie erleichtert das Tanzbein schwingt, schreitet er
regelrecht monarchisch den Hof des Louvre ab. Es ist 22.33 Uhr am
Sonntagabend in Paris und „Le Kid“, wie Frankreich ihn nennt, hat es
geschafft. Ganz alleine nimmt er zur Beethoven’schen Europahymne „Ode an
die Freude“ Kurs auf die Staatspräsidentschaft.
Marine Le Pen wirbelt derweil zu Rock ’n’ Roll im Bois de Vincennes ihren
Lebensgefährten Louis Ailot vor den Kameras herum – hat sie die Macht
eigentlich wirklich gewollt? Kurz nach 20 Uhr hat sie bereits ihre
Niederlage eingestanden, [1][eine Neuausrichtung des Front National
angekündigt], was immer das auch heißen mag, und sie will den Parteinamen
ändern. So viel zum Etikettenschwindel.
Im Hof des Louvre dauert Macrons einsamer Gang vier Minuten, und man kann
sich jetzt schon vorstellen, dass er noch oft allein sein wird, umzingelt
von den verschiedensten Interessengruppen. Denn Frankreich ist nach dieser
Entscheidung ein mehrfach gespaltenes Land. [2][Jeder dritte Franzose, jede
dritte Französin hat den reaktionären, rechtsextremen Front National
gewählt], auch wenn Marine Le Pen nur noch in 2 von 101 Départements
gesiegt hat.
Und [3][Macron weiß auch], dass mindestens zwei Drittel seiner Wählerschaft
aus Verlegenheit für ihn gestimmt hat, nicht aus Überzeugung. „Ich verstehe
die Vorbehalte … ich will ein Präsident für Sie alle werden“, gibt der
39-Jährige treuherzig zu Protokoll – vor der Kulisse der gläsernen
Louvrepyramide und während der Siegesfeier mit rund 30.000 Anhängern, sehr
viele von ihnen unter 35.
## Alles andere als ruhig
Am Tag danach, wegen der Siegesfeiern zum 8. Mai 1945 ein Ruhetag in ganz
Frankreich, ist die Stimmung alles andere als ruhig. Gefühlt an sämtlichen
Fronten wird weiter debattiert, ob öffentlich oder privat. Mit wem macht
Macron ab nächste Woche seine Regierung? Wer wird Premierminister? Und wie
stellt sich En marche! für die Parlamentswahlen im Juni auf?
Sogar die Sonne hat sich ganz kurz für diesen Politmarathon ins Zeug
gelegt, nach einem komplett grauen Nieselsonntag nimmt sie am Montag die
Parade am Arc de Triomphe ab. Dort legen Macron und Hollande gemeinsam
einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten ab, und dort sieht der Neue
den Alten, seinen früheren Chef, wortlos an, als wolle er sagen: „Nimm’s
nicht persönlich, aber das musste jetzt sein.“
Musste das wirklich sein? Für militante Anhänger des im ersten Wahlgang mit
fast 20 Prozent der Stimmen unterlegenen Linken Jean-Luc Mélénchon, hätte
die Wahl Macrons gar nicht erst passieren dürfen. Ihre Antwort lautet am
Montagabend im linksalternativen Pariser Viertel Ménilmontant und in
anderen französischen Großstädten: vermummter Rabatz mit der Polizei,
eingeworfene Schaufensterscheiben, über 140 Festnahmen allein in Paris.
An der nicht weit von Ménilmontant entfernten Place de la République, einer
der symbolischen linken Sammlungsorte der Hauptstadt, bleibt es dagegen
ruhig. Unter der Statue der gusseisernen Marianne sitzt bei Dosenbier Elise
Piat, es ist kurz nach Mitternacht am Montag, und knapp über Elise prangt
ein giftgrünes Graffito „Nique le FN!“ – Fick dich, Front National!“ P…
Doktorandin der Geografie, Ende 20, freut sich über Macrons Sieg, auch wenn
er nicht wirklich für das stehe, was sie sich an politischer Gestaltung
vorstelle. „Linksliberal ist er nun wirklich nicht, wie es so oft heißt.“
## Genug vom ständigen Stillstand
Nein, Macron sei neoliberal – sozialliberal, „wenn’s hochkommt. Ein Zögl…
Hollandes eben, aber dann wieder denk ich: Hey, der ist jung, meine
Generation, warum geben wir ihm nicht einfach eine Chance?“ Viel zu oft sei
es eben so in Frankreich, „dass ständiges Herumkritteln zu Stillstand und
Pessimismus führe. Und die beiden hatten wir jetzt lange genug.“
Dieses Gefühl zieht sich auch durch die kreischend laute Wahlparty Macrons
am Louvre, die von mediokrer Dancefloormucke unterlegt ist. Musikalisch
hätte die Jugend Besseres verdient, aber nun gut. Auffällig am
Sonntagabend: Nicht wenige Frauen mit Kopftuch sind unterwegs, Macron zu
feiern.
Malika Hadji hat marokkanische Wurzeln, lebt im Pariser Vorort La Défense.
Die Hausfrau, angetan mit Europa- und Frankreichfahne, ist samt Kindern
gekommen. Der achtjährige Said turnt auf einem Laternenpfahl herum, um den
Sieger besser erspähen zu können. Hadji hält ihre Tochter Aicha fest im
Arm. „Hoffentlich entspannt sich mit Macron die Situation für uns Muslime
im Land. Ich bin es leid, ständig auf mein Kopftuch verwiesen zu werden.
Wir brauchen wieder die wirkliche Trennung von Staat und Kirche. Mein
Kopftuch geht nur mich was an.“
Boris Labris ist da ganz anderer Ansicht. Als überzeugter Le-Pen-Anhänger
prophezeit der 41-jährige Techniker einen Sieg Le Pens 2022, „denn die
Leute werden sich noch umschauen: Macron fährt Frankreich gegen die Wand.“
Warum er ausgerechnet auf dessen Wahlparty ist? „Bei ihm kannst du gut
tanzen! Auch wenn du von Schwachköpfen umgeben bist.“
Dort, wo tief unter dem Rednerpult von Macron, im Einkaufszentrum Carrousel
de Louvre, im Februar noch eine terroristische Messerattacke stattgefunden
hatte, dort laufen die Anhänger von En marche wie junge Hunde am Sonntag
hinein ins Rund. Auf France 2 spricht derweil eine sichtlich erleichterte
Ségolène Royal, die Exfrau von François Hollande und noch sozialistische
Umweltministerin, von „einem überfälligen Generationenwechsel“.
„Wir sind offen für alle bei Sozialisten und Konservativen, die nach vorne
wollen“, betont denn auch gestern Christophe Castaner, der Sprecher von
Macron. Selbst eine doppelte Parteimitgliedschaft sei möglich, wenn man
sich nur verpflichte, unter dem „En marche!“-Logo im Juni in die
Nationalversammlung einzuziehen. Ungewohnte Töne der Öffnung und der
Flexibilität, aber um zum Regieren mindestens 289 der 577 Sitze in der
Nationalversammlung zu kriegen, bleibt Macron und den Seinen nichts anderes
übrig.
Gegenwind der Straße, zumindest von einem Teil der mächtigen französischen
Gewerkschaftsbewegung, gibt es sofort am Montagnachmittag auf der Place de
la République. Sogar nach dem Amtsantritt von Sarkozy 2007 dauerte es ein
paar Tage, bis wieder demonstriert wurde. Doch jetzt: „Macron, wir gehen
dir brutal an den Kragen!“ heißt es auf Plakaten, „Wir lassen uns nicht
verarschen!“, aber auch „Nur die Liebe rettet den Planeten!“
Der altbekannte „Front social“, ein Kollektiv verschiedener ultralinker
GewerkschafterInnen, hat zum Protest aufgerufen – nicht aber die Spitzen
der großen Gewerkschaften, wie die CGT, die sich für Macron ausgesprochen
hatte. Rund 2.500 Menschen sind gekommen, erwartet hatte man mehr.
„Macron wird aus dem Stand mit Erlassen und nicht mit Parlamentsbeschlüssen
regieren. Und er wird ultraneoliberal das momentan ausgesetzte
Arbeitsmarktgesetz durchdrücken, die Arbeitslosenversicherung kürzen“,
warnt Mark Dagobert, 40, und Anhänger einer trotzkistischen Pariser Gruppe.
„Wenn sich die echten Linken nicht zusammentun, sind wir weg vom Fenster.“
Was Frankreich jetzt braucht? „Auf jeden Fall keine Vorschusslorbeeren,
keine Schonung für Macron.“ Dagobert verkauft die Zeitung Toute la Vérité�…
– Die ganze Wahrheit – für 1 Euro. „Die ganze Welt braucht eine Revoluti…
der Kapitalismus ist am Ende.“
Wie aber hatte Macron noch kurz zuvor am Louvre aus seinem, in guten
Momenten Kennedy’schen Charme Kapital geschlagen? „Das ist eben Frankreich,
so was völlig Unerwartetes wie meine Wahl kann nur in Frankreich
passieren.“ Die Dankesmail an seine Fans in der Siegesnacht lautete dann
schlicht: „Tout commence“. Alles auf Anfang. Wenn es doch nur so einfach
wäre!
8 May 2017
## LINKS
[1] /Der-Front-National-nach-der-Wahl/!5407488
[2] /115-Millionen-Franzosen-waehlen-Le-Pen/!5407483
[3] /Praesidentschaftswahl-in-Frankreich/!5407426
## AUTOREN
Harriet Wolff
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