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# taz.de -- 100. Geburtstag von Johannes Bobrowski: Idyll und Zerstörung
> Wieder aktuell: Johannes Bobrowski plädierte in seinem Werk für ein
> multiethnisches Zusammenleben und gegen den Nationalismus.
Bild: Südliches, im Krieg nicht zerstörtes Portal der Königin-Luise-Brücke …
„Die Wahl des Themas ist für mich so etwas wie eine Kriegsverletzung. Zu
schreiben begonnen habe ich am Ilmensee 1941.“ Zwei Sätze des ostdeutschen
Autors Johannes Bobrowski, einer davon stimmt, einer nicht. Denn zu
schreiben begann der 1917 im damals ostpreußischen Tilsit geborene Autor,
der am 9. April 100 Jahre alt würde, schon als Gymnasiast in Königsberg,
dem heutigen Kaliningrad.
Sein Lebensthema fand Bobrowski aber erst während des Zweiten Weltkriegs,
nach dem Überfall auf Polen und dem Einmarsch in die Sowjetunion, an denen
er als Soldat beteiligt war. Als Funker der Nachrichtenabteilung ist er mit
der Wehrmacht durch Mittel- und Osteuropa gezogen, hat die Zerstörung
seiner Kindheitslandschaft erlebt: des Gebiets zwischen Tilsit – dem heute
russischen Sowjetsk – und den litauischen Dörfern Willkischken und
Motzischken am anderen Memelufer.
Bei den dort lebenden Großeltern hat der junge Bobrowski seine Sommer
verbracht. Die sandige Wald- und Wiesenlandschaft im preußisch-litauischen
Grenzgebiet prägte ihn, über sie hat der 1965 mit nur 48 Jahren verstorbene
Autor zeitlebens geschrieben.
Überhaupt über die Deutschen und ihre blutige Spur durch Mitteleuropa. Denn
dort, um die Memel herum, war er aufgewachsen ist, „wo Polen, Litauer,
Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit“. Nach
1945 war das vorbei. Bobrowski wusste das und wollte es noch einmal
benennen, „eine Überschau über das unwiderruflich Vergehende“ schaffen.
Literarisch (end)gültig Abschied nehmen.
## Ringen um Anerkennung
Drei Gedichtbände – „Sarmatische Zeit“, „Schattenland Ströme“ sowie,
posthum, „Wetterzeichen“ hat er verfasst. Dazu Erzählungen sowie die Romane
„Levins Mühle“ und „Litauische Claviere“: Das ist im Großen und Ganze…
Vermächtnis des Autors, der nach der Heimkehr aus russischer
Kriegsgefangenschaft 1949 mit seiner Familie in Ostberlin lebte, im
Stadtteil Friedrichshagen. Um Anerkennung hat er lange ringen müssen. Über
den deutschen Osten, das Revanchismus-Trauma par excellence, wollte man in
der damaligen DDR noch weniger hören als in der Bundesrepublik.
Zweite Hürde war die Sprache: schwer zu entschlüsseln, voller Metaphern,
unbekannter Orts-, gar Götternamen. Wer kennt schon Perkunas und Patrimpe,
die Götter der im 13. Jahrhundert vom Deutschen Orden gemeuchelten
baltischen Pruzzen? Wer kennt den einst heiligen Berg Rombinus? „Wilna,
Eiche / du – / meine Birke, / Nowgorod –, einst in Wäldern aufflog / meiner
Frühlinge Schrei“ beginnt das Gedicht „Anruf“. Es endet mit den Worten
„Heiß willkommen die Fremden. / Du wirst ein Fremder sein. Bald.“ Schwer zu
deuten als Einzeltext, leichter zugänglich, wenn man begreift, dass
Bobrowski gezielt Flora, Fauna, Menschen und deren Vernichtung durch fremde
Eroberer aufruft.
Mit deskriptiv-affirmativer Naturlyrik hat das wenig zu tun, eher mit
Enzyklopädischem: So akribisch wie exemplarisch kartiert Bobrowski den
Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, den er – nach einer antiken
Bezeichnung Eurasiens – „sarmatische Ebene“ nennt.
Natur fungiert dabei einerseits als Schauplatz alter Mythen bis zu
Steinzeit-Gemälden und dem altbabylonischen Gilgamesch-Epos. Andererseits
sind Memel und Jura Schauplätze der Eroberungsgeschichte durch Deutsche,
vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg. Drittens dienen Naturdetails als
Einfallstore literarisch überformter Erinnerung. Deren Ziel: das
Kaleidoskop einer im besten Sinne europäischen, weil multiethnischen Region
wachzurufen.
## Deutsche Schuld
Dabei wird Bobrowski nie larmoyant; Vertriebenengestus liegt ihm fern. Der
deutsche Osten sei durch deutsche Schuld „mit allem Recht unwiederbringlich
verloren“, hat er stets gesagt. Seine literarische Recherche ist also
exemplarisch gemeint, verbindet Information mit politischem und moralischem
Appell. „Ich möchte meinen Landsleuten etwas erzählen, das sie nicht
wissen“, hat er gesagt. Sie wüssten nicht Bescheid über die östlichen
Nachbarn, kennten deren Historie nicht richtig. Diese „lange Geschichte aus
Unglück und Verschuldung seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem
Volk zu Buch steht“.
Diese Schuld benennt er sehr konkret: Das Gedicht „Kaunas 1941“ etwa
entstand unter dem Eindruck des Pogroms der Wehrmacht an den dortigen
Juden. „Unter dem Dach / lebt die Jüdin, lebt in der Juden Verstummen … /
Am Tor / lärmen die Mörder vorüber“, schreibt er.
Seltsam verschattet bleibt dabei das lyrische Ich, vielleicht Bobrowskis
Alter Ego: „Sah ich dich nicht mehr an, / Bruder? An blutiger Wand / schlug
uns Schlaf“. Ist dies das Verdrängen des Gesehenen oder einer eigenen Tat?
Genau zu eruieren ist bis heute nicht, ob sich Bobrowski – sei es durch
Handeln, sei es durch Nichtverhindern oder Wegschauen – schuldig machte.
## Geschult an Klopstock und Hölderlin
Auch die jüngst edierten vier Briefbände, die der Germanist Jochen Meyer
vom Literaturarchiv Marbach nun auf einer Bobrowski-Tagung der Academia
Baltica im schleswig-holsteinischen Sankelmark präsentierte, erweisen das
nicht. „Was er genau im Krieg erlebte, bleibt noch zu erforschen“, sagt
auch der Potsdamer Bobrowski-Forscher Andreas Degen.
Bobrowskis Duktus – geschult an Klopstocks Oden und Hölderlins freien
Rhythmen –, der das Idyll und dessen Zerstörung zusammenbringt, packt
unmittelbar. Sinnlich ansprechen wolle er die Menschen, hat er einst
gesagt. Sie sprachlich-akustisch in diese oft hermetische Lyrik
hineinziehen. Seine Methode ist so archaisch wie gekonnt: Mit expressiven
Anrufungen, lautmalerisch bunten Namen, wie sie Schamanen und Priester
praktizierten, saugt er einen in die Gedichte hinein, führt weit in
menschheitsgeschichtliche Vergangenheit. Das funktioniert nicht kognitiv,
sondern über ästhetische und emotionale Kanäle, und es macht gar nichts,
wenn man nicht jede Anspielung versteht.
So haben es auch die Kollegen der Gruppe 47 gesehen; Walter Jens soll
sprachlos gewesen sein, als er Bobrowski 1962 ihren damals begehrten Preis
verlieh und ihn einen der wichtigsten Autoren seiner Zeit nannte: Thema und
Ton waren etwas völlig Neues auch für den Westen.
Dabei wollte Bobrowski, der während des „Dritten Reichs“ nicht der NSDAP,
sondern der Bekennenden Kirche beigetreten war, weder ost- noch west-,
sondern gesamtdeutscher Autor sein, nicht vereinnahmt werden. Und weil
Sprache und Thema so eigen waren, bedurfte es erst des renommierten
Preises, damit seine Bücher erscheinen konnten. Übrigens in beiden
deutschen Staaten parallel, das war selten während des Kalten Krieges.
Dass ihn ihm Gegenzug die Stasi ausspähte, versteht sich. Allerdings war
Bobrowski, der sich durchaus als politisch begriff, nie so mutig, etwa für
seinen Freund Peter Huchel einzutreten, der als Chef der DDR-Zeitschrift
Sinn und Form schon früh Bobrowski-Gedichte druckte. Als das DDR-Regime
Huchel 1953 feuerte, schwieg Bobrowski. Er litt danach lange unter seiner
Feigheit und bat Huchel schließlich um Verzeihung. In seinem politischen
Postulat war Bobrowski weniger furchtsam, trat engagiert gegen
Nationalismen und Ausgrenzung ein. Das Zeitalter der Sesshaftwerdung, der
Bindung an den Boden „geht zuende, mit ihm also Vorstellungen wie Heimat,
Heimweh, politisch: Nationalstaaten, Nationalbewusstsein, die zu
Provinzialismen werden“, schrieb er Ende der 1950er Jahre.
## Vorurteilsloses Erzählen
Ein hochaktueller Satz. Und Brobrowskis Brisanz reicht noch weiter, denn
sein Roman „Levins Mühle“ von 1964 lässt sich als Lehrstück über
antisemitische Unterströmungen lesen. Im Westpreußen der 1870er Jahre
spielt die Geschichte, in der ein deutschnationaler Mühlenbesitzer
ungestraft die Mühle seines jüdischen Konkurrenten Levin zerstört. Erzählt
wird das Ganze in einer klugen Montage aus scheinbar lapidarer, mündlicher
Alltagssprache, Reflexionen, Bewusstseinsströmen, sich überlagernden
Erzählebenen samt Einmischung des Erzählers. Gezielt beiläufig beleuchtet
der Autor dabei jene Denkträgheit, die Vorurteile generiert: „Feste Urteile
hat man schon gern, und vielleicht ist es manch einem egal, woher er sie
bekommt, mir ist es jetzt nicht egal, deshalb werde ich die Geschichte auch
erzählen“, schreibt er.
Eine Geschichte übrigens, die sich fast genauso in Bobrowskis Familie
abgespielt hat. Nur dass der Jude in der Realität recht bekam und im Roman
nicht.
Aber psychologische Genauigkeit schlägt historische, es geht um
Plausibilität. Um das Erspüren nationalistischer Timbres, die schleichend
Allgemeingut werden. Darin ist der Paneuropäer Bobrowski hochaktuell. Und
wenn Dietmar Albrecht, Gründer der Bobrowski-Gesellschaft, jetzt in
Sankelmark forderte, russische Übersetzungen neu aufzulegen: dann hatte er
eine weitere Facette ausgemacht – das Agitieren gegen eine neue
Ost-West-Konfrontation.
7 Apr 2017
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Antisemitismus
Lyrik
Preußen
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