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# taz.de -- Doku über russische Kinder: Holunderblüten bei Kaliningrad
> Idyllische Landschaften, zerrüttete Familien: Volker Koepps Film
> "Holunderblüte" zeigt das Leben von Kindern nahe der russischen Exklave
> Kaliningrad.
Bild: Die Eltern suchen Arbeit, zurück bleiben die Kinder.
Seit mehr als drei Jahrzehnten setzt sich Volker Koepp in seinen
Dokumentationen mit östlichen Landschaften und den Menschen, die in ihnen
leben, auseinander. Mit Pommern etwa, der Uckermark oder der Mark
Brandenburg. Mit "Holunderblüte" - der Titel bezieht sich auf ein
gleichnamiges Gedicht von Johannes Bobrowski - beschließt der 1944 im
polnischen Stettin geborene und in Berlin aufgewachsene Filmemacher nun
seinen vor knapp dreizehn Jahren mit "Kalte Heimat" begonnenen
Ostpreußenzyklus. Nachdem er sich in den bisherigen Teilen eher der
Vergangenheit zugewandt und überwiegend ältere Menschen porträtiert hat,
ist der Blick nun nach vorne gerichtet. Denn die Protagonisten dieses Films
sind Kinder.
Ein Jahr lang hat Volker Koepp Jungen und Mädchen aus der Umgebung der
russischen Exklave Kaliningrad begleitet: bei alltäglichen Verrichtungen -
in der Schule, beim Malen oder Zähneputzen -, vor allem aber beim Spielen
in den schier endlosen Weiten dieser zwischen Ostsee, Polen und Litauen
gelegenen Region. Man schaut ihnen zu beim Schlittenfahren und
Seilspringen, beim Sport oder beim bloßen Umherstreifen und ist immer
wieder überrascht angesichts dieser so glücklich anmutenden Märchenwelt,
die sich da auftut. Eingerahmt sind diese Szenen von Landschaftsaufnahmen,
die dem Film einen Rhythmus vorgeben: lange Einstellungen, die von Menschen
verlassene Flusslandschaften zeigen, herrliche Panoramaschwenks über Seen
und Wälder.
Wunderschön ist das alles, beinahe zu schön - und deshalb unter Vorbehalt
zu genießen. Denn natürlich weiß Volker Koepp, dass selbst die Bilder
baufälliger Ruinen oder heruntergewirtschafteter Dörfer großen Charme
entfalten. Für das Auge desjenigen, der das entbehrungsreiche Leben in der
Region nicht kennt, kann all das romantisch sein, was für die dort
beheimateten Menschen einfach nur deprimierend ist.
Glücklicherweise hat diese Erkenntnis Einfluss auf die Gesamtkomposition
des Films gehabt. Denn den Bildern ist immer auch etwas Anderes, Abwesendes
eingeschrieben, etwas, das diese Schönheit überlagert und von einer sehr
viel traurigeren Lebenswelt erzählt: von derjenigen der Erwachsenen, die in
diesem Film so gut wie nie zu sehen sind und die doch anhand der
Erzählungen ihrer Kinder stets präsent sind. "Schlecht ist, dass alle hier
Alkoholiker sind", sagt ein Mädchen, und ein Junge beteuert, niemals mit
dem Rauchen oder Trinken anfangen zu wollen.
Man erfährt von zerrütteten Familienverhältnissen, von Arbeitslosigkeit und
Gewalt. Männer in dieser Region werden im Schnitt bloß 55 Jahre alt. Ein
junges Mädchen erzählt, wie sie vor einigen Jahren nach der Schule von
einem Mann im Auto mitgenommen wurde und der sie plötzlich aus dem Wagen
geschubst hat - genau vor die Räder eines nahenden Lastwagens. Elfmal
musste sie operiert werden, auch heute noch ist sie gesundheitlich schwer
beeinträchtigt. Ihre Familie lebt von dem bisschen Geld, das ihr monatlich
an Invalidenrente zusteht. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als mit
ihren Brüdern in einer weit entfernten Stadt zu leben und ihre Eltern für
immer zurückzulassen.
Das ist ein Wunsch, den sie mit vielen der übrigen Kindern teilt. "Damit
man endlich die betrunkenen Fressen nicht mehr sehen muss", wie es ein
anderes Mädchen formuliert. Auf seine Träume angesprochen, sagt ein blonder
Junge: "Alle sollen höflich sein und niemals streiten." Sein Kamerad
wünscht sich, dass "alle Freunde sein" mögen, und man begreift, dass sich
der Ist-Zustand wohl in extremem Maße vom Soll-Zustand unterscheidet.
Trotzdem lachen die Kinder ständig. Dieses Nebeneinander von Unschuld und
Freude einerseits und äußerster Trost- und Perspektivlosigkeit andererseits
versetzt einen immer wieder in Staunen. Man kann sich einfach nicht
vorstellen, dass den jungen Protagonisten dieses Films irgendwann einmal
dasselbe Schicksal drohen könnte wie ihren Eltern. Um das zu vermeiden,
werden sie ihre Heimat womöglich für immer verlassen müssen. ANDREAS RESCH
24 Jan 2008
## AUTOREN
Andreas Resch
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Kino
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