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# taz.de -- Dichtkunst: Epiphanische Zeilen
> Woher kommt die Schönheit in der Lyrik? Heute ist der Weg zur
> unverstellten Empfindung versperrt. Der Dichter Wilhelm Bartsch lässt sie
> mit Sprachmelodik, Rhythmus und Anschauung entstehen.
Bild: Mamorn blickt der Dichter Schiller heute in die Welt
Dies ist das erste Mal, dass ich über Gedichte schreibe.
Und im Versuch zu begreifen, warum gerade die von Wilhelm Bartsch mich dazu
veranlassen, musste ich mir erst einmal darüber klar werden, was es
überhaupt ist, das mich bestimmte Gedichte lieben, viele andere nach einem
Satz teilnahmslos weglegen lässt.
Viele zeitgenössische Gedichte drehen einem sprachlich den Rücken zu, sind
spröde, unmusikalisch, prosaisch und wollen dem Leser offensichtlich auch
auf mehrmaliges Klopfen und Klingeln hin ihr Haus nicht öffnen. Dem späten
Paul Celan hat man häufig seine unverständlichen Begriffe vorgeworfen,
worauf er mit der kühlen Entgegnung reagierte, all diese Worte, die man
nicht kapiere, stünden im Wörterbuch und man könne sie nachschlagen.
Natürlich hatte er recht, und was an kryptischen Bildern oder an Sampling
aus poesiefernen Gefilden in die moderne Lyrik Eingang findet, hat seine
vollste Berechtigung.
Man kann heute nicht mehr wie Mörike schreiben, in erster Linie deshalb,
weil die Welt, auf die auch der Lyriker reagiert, eine völlig andere
geworden ist. Und ähnlich wie die Dissonanz und die Atonalität zwangsweise
in die Musik, die Abstraktion in die Malerei Einzug halten mussten, haben
sie das auch in die am stärksten verdichtete, die musikalischste
Literaturgattung, das Gedicht getan.
Unleugbar ist aber auch, dass das Problem der gegenwärtigen Lyrik das des
Kleistschen Marionettentheaters ist. Wie geht es nach der Erkenntnis (des
Schreckens und des Chaos unserer Zeit) und der Unmöglichkeit banaler
Harmonie nicht etwa retour, sondern vorwärts zur neuen Expressivität (des
lyrischen Ausdrucks)? Hier, wo die Transformation des dichterischen
Ausdrucks zum tiefen Eindruck des Lesers geschehen muss, ist der Ort, wo
Kunst stattfindet oder eben nicht.
Es führt aber kein Weg zur unverstellten Empfindung, es sei denn durch das
Wurmloch des epiphanischen Bildes, der magischen Zeile, die den Leser durch
Galaxien des Schalgewordenen, der Verbote und des Wusts der Theorien
hindurch direkt ins eigene Herz katapultiert.
Betrachte ich mir die ersten Zeilen einer willkürlichen Auswahl einiger
meiner Lieblingsgedichte, dann stelle ich fest, dass sie alle, so
unterschiedlich sie sind, dieses Evokationspotenzial besitzen, das mich wie
der Schlag eines Zenmeisters weckt und eine Wandlung des Zustands (erhöhte
Konzentration, veränderte Gemütslage) bewirkt, und das ich mangels eines
besseren Wortes "Magie" nenne.
"Kindheit - da hab ich den Pirol geliebt". (Johannes Bobrowski)
"Cétait au beau milieu de notre tragédie". ( Louis Aragon)
"Ich rede zu dir nach Jahren des Schweigens, mein Sohn. Es gibt kein
Verona." (Czeslaw Milosz)
"in Just - spring when the world is mud-luscious". (E. E. Cummings)
"While my hair was still cut straight across my forehead I played about the
front gate, pulling flowers." (Ezra Pound)
Für alle diese Zeilen gilt entweder: Sie rufen etwas wach, sie lassen mich
etwas Inexistentes plötzlich erblicken, oder sie erlauben mir, etwas Vages
von allen Seiten ausgeleuchtet zu sehen.
Und genau hier liegt der Grund dafür, warum Wilhelm Bartschs Gedichte mir
so gefallen: Es ist, um es mit einem Wort zu sagen, das das Tatsächliche
recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist, ihre Schönheit,
die mich betört.
Was heißt aber Schönheit in einem modernen Gedicht? Mangels einer Handlung
oder einer Figurenkonstellation muss es das musikalische Thema sein,
übertragen aufs literarische das Zusammenspiel von Sprachmelodik, Rhythmus
und Anschauung, das mich ködert, und woraus die Magie entsteht.
Epiphanische Zeilen, diese Wasserzeichen großer Dichtkunst, zeichnen auch
die Lyrik Wilhelm Bartschs aus:
"Mäandre im Flammentraum durchs Mahlwerk Stadt."
"Seine weißen Augen suchen froh das Unsichtbare."
"Müde Liebe, wie im Brachfeld die Lerche, so schlafe."
Das wunderbare Gedicht mit dieser Anfangszeile will ich in Gänze zitieren,
auch weil seine Fähigkeit zum Du so selten vorkommt in unserer Lyrik der
"Leere und des gezeichneten Ichs":
Fünftes Nachtstück // Müde Liebe, wie im Brachfeld die Lerche, so schlafe.
/ Schlaf, wie dem Hecht, schräg im Schilf, plötzlich voll / Mond ist der
Blick. // Schlaf, wie ein somalischer Fischer an Sonne und Ruder /
Einbeinig lehnt und schläft, daß ihn ein Windhauch/ bewegt. // Mulde werden
wir sein einander, umfangendes Wasser, / Wiegendes Ruder dem Traum, einer
des anderen / Schlaf.
Man glaube aber nicht, dass diese Idylle typisch sei für Bartsch. Im
Allgemeinen herrscht in seinen gesammelten Gedichten aus 28 Jahren, die
unter dem Titel "Geisterbahn" erschienen sind, eine dunklere Metaphorik,
ein getriebenerer Rhythmus, und die sprachliche Flora kennt Yggdrasil, die
nordische Weltesche, genauer als arkadische Olivenbäume.
In den biografischen Verlagsangaben über den 1950 in Eberswalde Geborenen
steht der unnachahmlich hübsche Satz: "Abitur mit Ausbildung zum
Rinderzüchter". Dass seine Dichtung sich aus tieferen und kräftigeren
Erfahrungsquellen als germanistischen Seminaren nährt, deutet der
Klappentext an, der neben einem Philosophiestudium Jobs als
Rotationsarbeiter und Postfacharbeiter erwähnt, aber es sind die Gedichte
selbst, die ein gewaltiges Spektrum an Erlittenem und Gedachtem abdecken,
von philosophischen Reflexionen über Aneignungen germanischer und
christlicher Mythologie bis zur Natur und Kunstbetrachtung.
Ich habe das Gefühl, kein in der DDR sozialisierter Dichter kann den
leichten Rauchgeruch aus Brechts Räucherkammer so ganz ablegen, auch
Bartsch nicht. Ein anderes DDR-Erbe, das Derbe, den rauhen Kraftkerl-Ton,
der auch Wolf Biermann kennzeichnet, nutzt Bartsch oft ironisch als
Palimpsest auf antiken Mustern wie im Gedicht über die Venus an der
Wurstbude "Thuringia Kallipygia":
"Klar, Alter! - Syrakus Vollmond war nichts gegen den Hintern".
Ja, manchmal streift er sich die Schiebermütze des Proleten über beim Gang
durch die ostdeutsche Provinz, aus der, wie schon Benn wusste, all unsere
Kunst kommt. Sie muss aber ein dunkler, ein düsterer Landstrich sein, und
das Leben, wie Bartsch es einfängt und kondensiert, muss an der Seele
kleben wie schwere Erde an Arbeitsstiefeln. In manchen Gedichten lagert
etwas von der tiefen und stumpfen Verzweiflung der Romane Wolfgang Hilbigs.
Immer wieder aber auch zieht sich der Dichter mit einer saloppen Wortvolte,
mit findigen Verben am eigenen Schopf aus dem Eis der Verhältnisse und des
hochkomplizierten Kunstidioms.
Umso bewundernswerter, welch unverzagte, unzerstörte Sensibilität des Auges
dann zutage tritt, wenn Bartsch sein nordostdeutsches Niflheim einmal
verlässt und in sonnigere, wenn auch nicht friedvollere Gefilde verschlagen
wird. Das Gedicht "Die Golanhöhen" beginnt so:
Wein kriecht lichtübersprüht im schwarzen Geröll, / in basaltenen
Feldgevierten: Schießscharten / zielen mit Licht auf den ewigen Schnee
Über fast 30 Jahre hinweg folgt seine Arbeit dem schönen Goetheschen
Prinzip, dass die Lyrik ein Tagebuch des gelebten Lebens sein solle, das
Fahrtenbuch eines Künstlers, dessen Gabe und Fluch es ist, auf alles,
Kunsteindrücke, Reiseerlebnisse, politische Verwerfungen, Freundschaft,
Krankheit, Tod und Liebe mit Sprachbildern zu reagieren, die für den Leser
die verlorene Zeit bewahren.
"Wir stehen", heißt es in dem Gedicht "Die Doppelkapelle in Landsberg":
"Wir stehen / Auf dem Berg und halten die rauchgeschwärzten / Zerbrochenen
Tafeln der Landschaft fest / In den unsicheren Händen, die Inschrift / Ist
unleserlich, das alte Gesetz / Ist bekannt: Es ist unser Sündenregister."
Wilhelm Bartsch: "Geisterbahn. Gedichte 1978-2005". edition Steko, Verlag
Janos Stekovics, 128 Seiten, 18,80 Euro Der Autor ist Schriftsteller,
zuletzt erschien von ihm das libanesische Reisetagebuch "Das Tier, das
weint" (DVA) &
21 Apr 2007
## AUTOREN
Michael Kleeberg
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
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